Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
gab: »Auf Wiedersehen! Auf baldiges Wiedersehen!« Der Brief war am 22. Mai geschrieben, und am 30. Juni floh Klimowa aus dem Gefängnis. Im Mai war die Flucht nicht nur beschlossen – alle Rollen waren gelernt, und Klimowa konnte sich einen Scherz nicht verkneifen. Übrigens, ein baldiges Wiedersehen gab es nicht, die Brüder und Schwestern sahen die ältere Schwester niemals wieder. Der Krieg, die Revolution, Nataschas Tod.
Die befreiten
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-Häftlinge, die von Freunden empfangen wurden, verschwanden in der heißen schwarzen Moskauer Nacht des ersten Juli. Natalja Sergejewna Klimowa war die bedeutendste Figur bei diesem Ausbruch, und ihre Rettung, ihre Flucht war besonders schwierig. Die Parteiorganisationen jener Zeit waren voller Provokateure, und Kalaschnikow erriet die Gedanken der Polizei und löste das Schachproblem. Kalaschnikow persönlich übernahm das Verschwindenlassen Klimowas und übergab Natalja Sergejewna in derselben Nacht in die Hände eines Mannes, der keinerlei Parteiverbindungen hatte – das war eine private Bekanntschaft, nicht mehr, ein Eisenbahningenieur, der mit der Revolution sympathisierte. Im Moskauer Haus des Ingenieurs blieb Klimowa einen Monat. Sowohl Kalaschnikow als auch Koridse waren längst verhaftet, ganz Rjasan wurde bei Durchsuchungen und Razzien auf den Kopf gestellt.
Nach einem Monat fuhr der Ingenieur Natalja Sergejewna, als seine Frau, über die Transsibrische Magistrale aus. Auf Kamelen durch die Wüste Gobi kam Klimowa bis Tokio. Von Japan mit dem Dampfer nach Italien. Paris.
Zehn
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-Häftlinge kommen bis nach Paris. Drei hat man am Tag der Flucht gefasst – Kartaschowa, Iwanowa, Schischkarjowa. Sie werden vor Gericht gestellt, bekommen eine weitere Haftstrafe, und als Anwalt in ihrem Prozess tritt Nikolaj Konstantinowitsch Murawjow auf – der künftige Vorsitzende der Regierungskommission zum Verhör der Minister des Zaren, der künftige Anwalt Ramsins.
So verflechten sich in Klimowas Leben die Namen von Menschen von den unterschiedlichsten Stufen der sozialen Leiter – aber immer sind es die Besten der Besten, die Fähigsten der Fähigsten.
Klimowa war ein Mensch der neunten Welle . Kaum von der zweijährigen
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erholt, nach der Flucht rund um die Erde, sucht Klimowa wieder eine Kampfaufgabe. 1910 beauftragt das ZK der Partei der Sozialrevolutionäre Sawinkow mit der Bildung einer neuen Kampfgruppe. Die Zusammenstellung einer Gruppe ist eine schwierige Sache. Im Auftrag Sawinkows reist ihr Mitglied Tschernawskij durch Russland und bis nach Tschita. Die ehemaligen Kämpfer wollen keine Bomben mehr anrühren. Tschernawskij kommt unverrichteter Dinge zurück. Hier sein Bericht, veröffentlicht in »
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und Verbannung« .
»Meine Reise (durch Russland und nach Tschita zu A.W. Jakimowa und W. Smirnow ) ergab keine Erweiterung der Gruppe. Beide ausgewählten Kandidaten lehnten es ab, sich ihr anzuschließen. Auf dem Rückweg hatte ich ein Vorgefühl davon, wie dieser Misserfolg die ohnehin üble Laune der Genossen drücken würde. Meine Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Der von mir mitgeteilte Misserfolg wurde wettgemacht durch einen Erfolg in meiner Abwesenheit. Man machte mich mit einem neuen Gruppenmitglied bekannt, Natalja Sergejewna Klimowa, der bekannten Maximalistin, die kürzlich mit einer Gruppe politischer
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-Häftlinge aus einem Moskauer
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-Gefängnis geflohen war. Ein Mitglied unseres ZK wusste immer, wo sich unsere Gruppe gerade befand, und wir hatten uns mit ihr in Verbindung gesetzt. Über ihn auch hatte N.S. ihren Wunsch an Sawinkow übermittelt, in die Gruppe einzutreten, und wurde selbstverständlich freudig aufgenommen. Wir alle verstanden genau, wie sehr der Eintritt von N.S. die Gruppe stärkte. Oben habe ich schon erwähnt, dass nach meiner Meinung M.A. Prokofjewa die stärkste Person in der Gruppe war. Jetzt hatten wir zwei starke Personen, und ich verglich sie unwillkürlich, stellte sie einander gegenüber. Ich dachte an Turgenjews bekanntes Prosagedicht »Die Schwelle« . Ein russisches Mädchen überschreitet eine schicksalhafte Schwelle, ungeachtet einer warnenden Stimme, die ihr dort, jenseits dieser Schwelle, allerhand Unglück verheißt: ›Kälte, Hunger, Hass, Spott, Verachtung, Kränkung, Gefängnis, Krankheit, Tod‹ – bis hin zur Enttäuschung davon, woran sie heute glaubt. Klimowa und Prokofjewa hatten diese Schwelle längst überschritten und die von der warnenden Stimme
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