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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Wir wussten, dass er sich in Meudon ansiedelte (mir scheint, ich nenne sie richtig, die kleine Stadt bei Paris), weit weg von der Emigration.
    Der unerwartete Vorfall mit Kirjuchin zeigte uns, wie lächerlich und ungeschickt wir waren, Versteck zu spielen in abgelegenen Winkeln von Westeuropa, während die Polizeiabteilung alles über uns wusste, was sie brauchte: Wenn sie sich dafür interessiert hätte, hätte sie sogar erfahren können, wer von uns am liebsten Backkartoffeln isst. Darum verließen wir das Dörfchen und zogen um nach Paris. Das war die erste Konsequenz aus dem Vorfall. Die zweite Konsequenz daraus war die Entscheidung, die Angelegenheit Rotmistr zu revidieren. Weil sich unser Scharfblick in Bezug auf Kirjuchin so blamiert hatte, entstanden natürlich Zweifel – haben wir nicht einen ebenso groben Fehler gemacht, nur in umgekehrter Richtung und in Bezug auf Rotmistr, d.h. haben wir nicht einen unschuldigen Menschen verdächtigt? Denn als sich Kirjuchin so offenbarte, dass in Bezug auf ihn kein Zweifel mehr bestehen konnte, stellte sich uns natürlich die Frage: ›Und was ist mit Rotmistr? Heißt das, er ist kein Provokateur?‹ Sawinkow beschloss, sich mit Rotmistr zu treffen und eine aufrichtige Aussprache mit ihm zu erreichen. Aber vorläufig schlug er mir und Moissejenko vor, nach Davos zu fahren und Prokofjewa von den wichtigen Ereignissen in unserer Gruppe zu unterrichten.
    Wir blieben wohl etwa zwei Wochen in Davos. Jeden Tag besuchten wir ›Ma‹ im Sanatorium. In ihrem Zustand war eine wesentliche Besserung eingetreten. Sie hatte ein wenig zugenommen, die Ärzte lockerten allmählich ihr Regime, gestatteten Spaziergänge etc. Wir hätten den Aufenthalt in Davos gern ausgedehnt, als plötzlich ein Telegramm von Sawinkow kam: ›Kommt. Rotmistr tot.‹
    Beim Wiedersehen mit Sawinkow verblüffte mich seine sehr niedergeschlagene Miene. Er gab mir ein Blatt Papier und sagte düster: ›Lesen Sie. Wir haben einen Menschen überfahren.‹ Es war Rotmistrs Abschiedsbrief. Er war kurz, kaum mehr als 10 Zeilen, einfach geschrieben, und ähnelte ganz dem geschraubten Brief, der uns nach Newquay geschickt wurde. Ich will nicht versuchen, ihn genau zu zitieren. Ich gebe nur den Kern wieder. ›Ja, so ist das also, Ihr habt mich der Provokation verdächtigt, und ich dachte, alles Unglück liegt im Streit mit B.W. Vielen Dank Euch, Genossen!‹
    Und so hatte sich alles zugetragen. Sawinkow hatte sich mit der Bitte an Rotmistr gewandt, zu einer Unterhaltung nach Paris zu kommen. Rotmistr kam. Sawinkow erzählte ihm vom Reinfall mit Kirjuchin und bekannte, dass er Rotmistr wegen des Verdachts auf Provokation ausgeschlossen hatte. Er bekniete ihn, aufrichtig zu sein und zu erklären, warum er in Bezug auf die Eisenbahn und die Wanne gelogen hatte. Rotmistr bekannte, dass eins wie das andere eine Lüge war, aber gab keinerlei Erklärungen und schwieg düster. Leider konnten sie das Gespräch nicht zu Ende führen, weil in der Wohnung, in der das Treffen stattfand, Besucher erschienen und die weitere Unterhaltung störten. Sawinkow bat Rotmistr, am nächsten Tag zu kommen, um das Gespräch abzuschließen. Rotmistr versprach es, doch er kam nicht, man fand ihn erschossen in seinem Zimmer, fand auch den Abschiedsbrief.
    Wir hatten die Selbstentlarvung des ›Mannes mit dem ruhigen Gewissen‹ noch nicht verdaut, als man uns einen Leichnam ins Gesicht schleuderte. Alles stand innerlich kopf. Wir alle nahmen Sawinkows Formel an, ›Wir haben einen Menschen überfahren.‹
    Einige Zeit später mussten wir W.O. Fabrikant in ein Sanatorium für Nervenkranke bringen. Alle waren bedrückt, aber noch nahmen sie sich zusammen und dachten – ›Jetzt kommt Nasarow, und wir fahren sofort nach Russland.‹ Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange wir warten mussten. Schließlich kam der junge Mann zurück, den wir nach Sibirien geschickt hatten. Er erzählte, dass Nasarow zugestimmt habe, der Gruppe beizutreten, beide waren bis an die Grenze gefahren, aber beim Übergang verschwand Nasarow. An der Grenze hatten sie sich in irgendeiner Scheune versteckt. Der junge Mann musste sich wegen irgendetwas entfernen, und als er zurückkam, war Nasarow nicht in der Scheune. Offensichtlich hatte man ihn verhaftet: so dachte der junge Mann, und so dachten auch wir. Dieses Unglück zerschlug die Gruppe endgültig. Sie ging auseinander.
    Nach der Auflösung der Gruppe rief mich einmal auf einer Pariser Straße jemand an. Das war

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