Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
und Sympathie – und fertig. Weder Korrespondenz noch Treffen, noch der Wunsch, mehr über das Schicksal der anderen zu erfahren. Terentjewa hatte die
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in der Malzew-Abteilung abgebüßt, im Ural, wo Akatuj ist, sie kam mit der Revolution frei.
Aus dem Nowinskij-Gefängnis, wo die Zusammensetzung der Frauen in der Zelle sehr bunt gewesen war, hatte Natalja Sergejewna nur eine Freundschaft fürs Leben behalten – die mit der Aufseherin Tarassowa. Diese Freundschaft hielt ewig.
Von der Insel Guernsey waren mehr Leute in Klimowas Leben eingetreten – Fabrikant, der Tarassowa heiratete, und Moissejenko werden ihre engen Freunde. Natalja Sergejewna unterhält keine enge Beziehung mit der Familie Sawinkows und strebt nicht danach, diese Bekanntschaft zu festigen.
Wie auch Terentjewa ist Sawinkow für Klimowa ein Kampfgefährte, nicht mehr.
Klimowa ist keine Theoretikerin, keine Fanatikerin, keine Agitatorin und keine Propagandistin. All ihre Impulse – ihre Handlungen – sind ein Tribut an das eigene Temperament, an die »Sentimente mit Philosophie«.
Klimowa war für alles geeignet, aber nicht für den Alltag. Wie sich zeigt, gibt es schwerere Dinge für sie als das monatelange hungrige Warten, als sie Kartoffeln buken zum Abendessen.
Die ständigen Bemühungen um einen Verdienst, eine Unterstützung, und zwei kleine Kinder, die Sorge und Entscheidungen verlangen.
Nach der Revolution fährt ihr Mann der Familie nach Russland voraus, und die Verbindung ist für einige Jahre unterbrochen. Natalja Sergejewna drängt es nach Russland. Schwanger mit dem dritten Kind, zieht sie von der Schweiz nach Paris, um über London nach Russland auszureisen. Die Kinder und N.S. werden krank und verpassen den speziellen Kinderdampfer.
Ach, wie oft hatte Natalja Klimowa in Briefen aus dem Petersburger Untersuchungsgefängnis Ratschläge an ihre kleinen Schwestern gegeben, die die Stiefmutter, Olga Nikiforowna Klimowa, versprochen hatte, aus Rjasan zu Natascha ins Gefängnis nach Moskau zu bringen.
Tausend Ratschläge: Erkältet euch nicht. Steht nicht unter der Luftklappe. Sonst wird nichts aus der Reise. Und die Kinder hörten auf die Ratschläge ihrer älteren Schwester und fuhren behütet nach Petersburg zum Besuch im Gefängnis.
1917 hatte Natascha Klimowa keinen solchen Ratgeber. Die Kinder erkälteten sich, der Dampfer fuhr ab. Im September wird das dritte Kind geboren, ein Mädchen, es lebt nicht lange. 1918 macht Natalja Sergejewna den letzten Versuch, nach Russland zu fahren. Die Fahrkarten für den Dampfer sind gekauft. Aber – beide Mädchen von Natalja Sergejewna, Natascha und Katja, erkranken an Grippe. Während sie sie pflegt, wird Klimowa selbst krank. Die Grippe von 1918, das ist eine Pandemie, das ist die »Spanierin«. Klimowa stirbt, und die Kinder werden von Freunden Natalja Sergejewnas erzogen. Der Vater – er ist in Russland – trifft die Kinder erst 1923.
Die Zeit läuft schneller, als die Menschen denken.
Glück hat es in dieser Familie nicht gegeben.
Der Krieg. Natalja Sergejewna – als aktiver, leidenschaftlicher oboronez – nahm die militärische Niederlage Russlands sehr schwer, und die Revolution mit ihren trüben Strömen erlebte sie sehr schmerzlich.
Es scheint keinen Zweifel zu geben, dass sich Natalja Sergejewna in Russland gefunden hätte. Aber – fand sich Sawinkow? Nein. Fand sich Nadeshda Terentjewa? Nein.
Hier berührt sich das Schicksal Natalja Sergejewna Klimowas mit der großen Tragödie der russischen Intelligenz, der revolutionären Intelligenz.
Die besten Leute der russischen Revolution brachten allergrößte Opfer, kamen jung und namenlos um, nachdem sie den Thron ins Wanken gebracht hatten – sie brachten solche Opfer, dass im Moment der Revolution diese Partei keine Kräfte mehr hatte, keine Menschen mehr hatte, um Russland anzuführen.
Der Riss, an dem die Zeit zersprang, nicht nur in Russland, sondern auf der Welt – auf der einen Seite der ganze Humanismus des 19. Jahrhunderts, seine Opferbereitschaft, sein moralisches Klima, seine Literatur und Kunst, und auf der anderen Hiroshima, der blutige Krieg und die Konzentrationslager, die mittelalterliche Folter und Zerstörung der Seelen, der Verrat als moralischer Wert – sind das erschreckende Vorzeichen des totalitären Staats.
Leben und Schicksal der Klimowa sind auch darum ins menschliche Gedächtnis eingeschrieben, weil dieses Leben und Schicksal der Riss sind, an dem die Zeit zersprang.
Das Schicksal
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