Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Mischa . Ich wusste, dass man ihn nach dem Ausschluss aus der Gruppe, auf Bitten Sawinkows, in Paris als Fahrer bei einer Autofirma eingestellt hatte. Jetzt stand er mit seinem Wagen in Erwartung eines Fahrgastes. Wir sprachen über Vergangenes, über Gegenwärtiges. Er schlug vor: ›Ich möchte Sie ein wenig herumfahren. Steigen Sie ein.‹ Ich lehnte ab. Das Gespräch ging weiter, aber bald bemerkte ich in Mischas Augen aufsteigende Tränen und verabschiedete mich rasch.
    ›Noch immer so unausgeglichen‹, dachte ich.
    Ich fuhr nach Italien. Nach ein paar Monaten erhielt ich dort Nachricht, dass Mischa sich erschossen habe und dass er in seinem Abschiedsbrief darum bitte, ihn neben Rotmistr zu beerdigen …«
    So nah kam der Tod dem Leben dieser Menschen, ihrem täglichen Alltag. Wie leicht beschloss man den eigenen Tod. Das Recht auf den Tod wurde sehr großzügig und ungezwungen genutzt.
    Die Gruppe Sawinkow, Guernsey-Dieppe-Paris – waren Natalja Klimowas letzte Kampfetappen. Der Misserfolg bedrückte sie wohl kaum. Das lag ihr nicht. Klimowa hatte sich an die großen Tode gewöhnt, sie waren ihr vertraut, und menschliche Gemeinheit war wohl kaum etwas Neues im revolutionären Untergrund. Längst waren Asef entlarvt, Tatarow getötet. Die Misserfolge der Gruppe konnten Natalja Sergejewna nicht von der Allmacht der Selbstherrschaft und der Hoffnungslosigkeit aller Anstrengungen überzeugen. Und dennoch – das war Klimowas letzte Beteiligung am Kampf. Irgendwelche Spuren hatte diese Verletzung in Natalja Sergejewnas Psyche natürlich hinterlassen …
    1911 macht Natalja Sergejewna die Bekanntschaft eines Sozialrevolutionärs und Kämpfers, der aus der
katorga
in Tschita geflohen ist. Er ist ein Landsmann von Michail Sokolow, dem »Bären«.
    Sich in Natalja Sergejewna zu verlieben ist leicht. Natalja Sergejewna weiß das selbst genau. Der Gast fährt in die Kolonie der »Amazonen« mit einem Brief an Natalja Sergejewna und den scherzhaften Worten zum Geleit: »Verlieb dich nicht in Klimowa.« Die Haustür öffnet Aleksandra Wassiljewna Tarassowa – dieselbe, die die »Amazonen« aus dem Nowinskij-Gefängnis befreit hat –, und der Gast, der Tarassowa für die Hausherrin hält und sich an die Warnung der Freunde erinnert, wundert sich über die Haltlosigkeit der menschlichen Urteile. Aber Natalja Sergejewna kommt heraus, und der Gast, der schon nach Hause fahren wollte, kehrt an der ersten Station wieder um.
    Die eilige Affäre, die eilige Ehe Natalja Sergejewnas.
    Alle leidenschaftliche Selbstbehauptung richtet sich plötzlich auf die Mutterschaft. Das erste Kind. Das zweite Kind. Das dritte Kind. Der schwere Alltag in der Emigration.
    Klimowa war ein Mensch der neunten Welle. In den 33 Jahren ihres Lebens trug das Schicksal Natalja Klimowa auf die höchsten, die gefährlichsten Wellenkämme des Revolutionssturms, der die russische Gesellschaft erschütterte, und Natalja Klimowa hatte diesen Sturm gemeistert.
    Die Windstille brachte sie um.
    Die Windstille, der sich Natalja Sergejewna genauso leidenschaftlich, genauso selbstlos hingab wie auch dem Sturm … Ihre Mutterschaft – das erste Kind, das zweite Kind, das dritte Kind – war genauso aufopfernd, genauso absolut, wie ihr ganzes Leben als Sprengstoff-Attentäterin und Terroristin.
    Die Windstille brachte sie um. Eine verfehlte Ehe, die Fallstricke des Alltags, die Kleinigkeiten, der Mäusetritt des Lebens fesselten sie an Händen und Füßen. Als Frau nahm sie auch dieses ihr Los an – sie hörte auf die Natur, der zu folgen sie von Kind an so gewohnt war.
    Eine verfehlte Ehe – Natalja Sergejewna hatte den »Bären« nie vergessen, ob er ihr Mann war oder nicht, ist entschieden gleichgültig. Ihr Mann ist ein Landsmann von Sokolow,
katorga
-Häftling, Untergrundkämpfer, ein in höchstem Grade würdiger Mensch, und diese Affäre entfaltet sich mit aller Klimowaschen Begeisterung und Tollkühnheit. Aber Klimowas Mann war ein gewöhnlicher Mensch, und der »Bär«, ein Mensch der neunten Welle, war die erste und einzige Liebe der Hörerin der Kurse von Lochwizkaja-Skalon .
    Anstelle von Dynamitbomben muss sie Windeln schleppen, Berge von Kinderwindeln, und waschen, bügeln, aufwaschen.
    Klimowas Freunde? Die engsten Freunde waren 1906 am Galgen gestorben. Nadeshda Terentjewa, aus dem gleichen Verfahren um die Apothekerinsel, war keine enge Freundin Nataschas. Terentjewa war eine Genossin in der revolutionären Sache, nicht mehr. Gegenseitige Achtung

Weitere Kostenlose Bücher