Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
unserer Lagerabteilung Viktor Petrowitsch Findikaki, mein Nachbar in der Baracke.
Viktor Petrowitsch Findikaki, Haftzeit fünf Jahre, Artikel achtundfünfzig, Punkte sieben und elf, war der erste russische Ingenieur, der – das war in der Ukraine – das Walzen von Buntmetallen bewerkstelligte. Seine Arbeiten auf seinem Fachgebiet sind in der russischen Technik gut bekannt, und als sein neuer Arbeitgeber, das Chemiekombinat von Beresniki, Viktor Petrowitsch anbot, ein Lehrbuch zu seinem Fach zu redigieren, machte sich Viktor Petrowitsch enthusiastisch an die Arbeit, aber bald wurde er traurig, und nur mit Mühe erfuhr ich von Viktor Petrowitsch den Grund für seine Betrübnis.
Viktor Petrowitsch erklärte ohne die Spur eines Lächelns, dass in dem von ihm redigierten Lehrbuch das Wort »sabotiert« vorkommt – und er hat dieses Wort überall ausgestrichen. Er hat es durch das Wort »behindert« ersetzt. Jetzt liegt seine Arbeit bei der Leitung.
Viktor Petrowitschs Korrekturen stießen bei der Leitung nicht auf Widerspruch, und Viktor Petrowitsch blieb auf der Ingenieursstelle.
Eine Kleinigkeit, natürlich. Aber für Viktor Petrowitsch war das eine ernste, prinzipielle Sache, und warum – erkläre ich hier.
Viktor Petrowitsch war »umgefallen«, wie die Ganoven und die Lagerchefs sagen. In seinem Prozess hatte er der Untersuchung geholfen und bei Gegenüberstellungen mitgemacht, er war eingeschüchtert, umgehauen und zertreten. Und offenbar nicht nur im übertragenen Sinn. Viktor Petrowitsch hatte mehrere Fließbänder hinter sich, wie man das vier, fünf Jahre später überall nennen würde.
Der Chef des Produktionslagers Pawel Petrowitsch Miller kannte Findikaki aus dem Gefängnis. Und obwohl Miller selbst Fließbänder wie Backpfeifen ertragen und zehn Jahre bekommen hatte, war er irgendwie gleichgültig gegenüber Viktor Petrowitschs Fehltritt. Viktor Petrowitsch selbst jedoch quälte sich entsetzlich mit seinem Verrat. In all diesen Sabotage-Verfahren hatte es Erschießungen gegeben. Nicht viele zwar, aber es gab schon Erschießungen. Ins Lager kam der Schachty-Mann Bojarschinow, und auch er sprach scheinbar feindselig mit Findikaki.
Das Bewusstsein eines Scheiterns, eines maßlosen moralischen Verfalls ließ Findikaki lange nicht los. Viktor Petrowitsch (in der Baracke stand sein Bett neben meinem) wollte nicht einmal auf einer Ganoven-, einer priviliegierten Stelle arbeiten, als Brigadier, Vorarbeiter oder Gehilfe von Pawel Petrowitsch Miller selbst.
Findikaki war ein physisch kräftiger Mann, untersetzt, breitschultrig. Ich erinnere mich, ein wenig erstaunte er Miller, als er um Aufnahme in die Packerbrigade der Sodafabrik bat. Diese Brigade, die nicht frei herumlaufen durfte, wurde zu jeder Tages- und Nachtzeit zum Beladen und Entladen von Waggons aus dem Lager in die Sodafabrik gerufen. Das Arbeitstempo war es, worum es der Verwaltung der Sodafabrik wegen des drohenden Eisenbahnzuschlags vor allem ging. Miller riet dem Ingenieur, mit dem Brigadier der Packer zu sprechen. Judin, der Brigadier, wohnte in derselben Baracke und lachte laut, als er Findikakis Bitte hörte. Der geborene Bandenchef Judin mochte keine Weißhändchen, Ingenieure, überhaupt Studierte. Aber auf Millers Wunsch nahm er ihn in seine Brigade auf.
Seit jener Zeit begegneten Findikaki und ich uns selten, obwohl wir nebeneinander schliefen.
Es verging einige Zeit, und im Chimstroj wurde ein kluger Sklave gebraucht, ein studierter Sklave. Ein Ingenieurhirn wurde gebraucht. Es gibt Arbeit für Findikaki. Aber Viktor Petrowitsch weigerte sich: »Nein, ich will nicht in eine Welt zurückkehren, in der mir jedes Wort verhasst ist und jeder technische Terminus nach der Sprache der Denunzianten, dem Wortschatz der Verräter klingt.« Miller zuckte die Schultern, und Findikaki arbeitete weiter als Packer.
Aber bald beruhigte sich Findikaki ein wenig, das Trauma seines Gerichtsverfahrens legte sich ein wenig. Im Lager kamen andere Ingenieure an, Umgefallene wie er. Viktor Petrowitsch sah sie sich aufmerksam an. Sie leben, und sie sterben weder an der eigenen Scham noch an der Verachtung der Umgebenden. Und es gibt auch keinerlei Boykott – Leute wie alle anderen. Und allmählich bedauerte Viktor Petrowitsch seine Grille, seine Kinderei ein wenig.
Wieder gab es eine Ingenieurstelle im Baubetrieb, und Miller – über ihn ging das Gesuch an den Chef – sagte einigen gerade angekommenen Ingenieuren ab. Viktor Petrowitsch wurde noch
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