Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Südlichen OGPU. GP bedeutet im ersten Fall »staatlich-politisch«, und im zweiten einfach »Bergbauleitung« – linguistische Spielereien der Mitarbeiter der »Organe«.
    Es kam das Jahr sechsunddreißig, mit Erschießungen, mit Entlarvungen, mit Reuebezeigungen. Und nach sechsunddreißig – siebenunddreißig.
    An der Kolyma gab es viele »Prozesse«, aber diese lokalen Opfer waren Stalin zu wenig. In den Rachen des Molochs musste ein größeres Opfer geworfen werden.
    Im November siebenunddreißig wurde Bersin für ein Jahr beurlaubt und nach Moskau gerufen. Zum Direktor des Dalstroj wurde Pawlow ernannt. Bersin stellte den neuen Direktor dem Dalstroj-Parteiaktiv vor. Gemeinsam mit Pawlow in die Bergwerke zu fahren und die Geschäfte zu übergeben, war keine Zeit – Moskau drängte.
    Vor der Abreise half Bersin Tamarin, Urlaub »aufs Festland« zu bekommen. Als Dalstrojmitarbeiter mit zwei Dienstjahren hatte Aleksandr Aleksandrowitsch noch keinen Anspruch auf Urlaub. Dieser Urlaub war die letzte Wohltat, die der Direktor des Dalstroj dem General Khan-Girej erwies.
    Sie fuhren im selben Waggon. Bersin war, wie immer, finster. Kurz vor Moskau, in Aleksandrow, in einer eisigen Dezember-Schneesturmnacht trat Bersin hinaus auf den Bahnsteig. Und kehrte nicht in den Waggon zurück. Der Zug kam in Moskau ohne Bersin an. Tamarin, der einige Tage seiner wirklichen Freiheit – der ersten in zwanzig Jahren – zugewartet hatte, versuchte sich nach dem Schicksal seines vieljährigen Chefs und Beschützers zu erkundigen. Bei einer seiner Visiten in der Vertretung des Dalstroj erfuhr Tamarin, dass auch er selbst »aus dem System« entlassen war, entlassen in Abwesenheit und für immer.
    Tamarin beschloss, noch einmal sein Glück zu versuchen. Jede Eingabe, Beschwerde oder Bitte zog in jenen Jahren die Aufmerksamkeit auf den Einreichenden und barg ein tödliches Risiko. Aber Tamarin war alt. Er wollte nicht warten. Ja, er war ein alter Mann, er wollte und konnte nicht warten. Tamarin schrieb eine Eingabe an die Dalstroj-Verwaltung und bat, ihn zur Arbeit zurück an die Kolyma zu schicken. Tamarin erhielt eine Absage – solche Spezialisten wurden an der Nach-Bersin-Kolyma nicht gebraucht.
    Es war März achtunddreißig, alle Durchgangslager des Landes waren vollgestopft mit Häftlingstransporten. Der Sinn dieser Antwort war der: Und wenn man dich hinschickt, dann nur mit Begleitposten.
    Das war die letzte Spur von Khan-Girej, dem Gärtner und General, auf dieser Erde.
    Bersins und Tamarins Schicksale gleichen einander sehr. Beide dienten der Macht und gehorchten dieser Macht. Sie glaubten an die Macht. Und die Macht hat sie betrogen.
    Die Lockhart-Affäre wurde Bersin niemals verziehen und vergessen. Im Westen hielten die Memoirenschreiber Bersin für einen treuen Teilnehmer der englischen Verschwörung. Weder Lenin noch Dsershinskij, die die Einzelheiten der Lockhart-Affäre kannten, waren mehr am Leben. Und als die Stunde gekommen war, tötete Stalin Bersin. Um Staatsgeheimnisse herum ist es für die Menschen zu heiß, selbst für solche mit so kaltem Blut wie Bersin.
    <1967>

Das Abendgebet
    Seit dem Jahr dreißig gab es diese Mode: Ingenieure zu verkaufen. Das Lager hatte nicht geringen Gewinn vom Auswärts-Verkauf der Träger von technischem Wissen. Das Lager erhielt den vollen Satz, und davon zog man die Ernährung des Häftlings, Kleidung, Begleitposten, Untersuchungsapparat, selbst den GULag ab. Doch nach Abzug aller kommunalen Kosten blieb noch eine ordentliche Summe. Diese Summe gelangte keineswegs in die Hände des Häftlings oder auf sein laufendes Konto. Nein. Die Summe ging als Gewinn an den Staat, und der Häftling erhielt völlig willkürliche Prämiengelder, die manchmal für ein Päckchen »Puschka«-Papirossy reichten und manchmal auch für mehrere Päckchen. Eine klügere Lagerleitung versuchte, von Moskau die Erlaubnis zu bekommen, einen zwar kleinen, aber festgelegten Prozentsatz des Arbeitslohns auszuzahlen, dem Häftling diese Summe in die Hand zu geben. Doch die Erlaubnis zu einer solchen Abrechnung gab Moskau nicht, und die Ingenieure wurden willkürlich bezahlt. Wie übrigens auch die Erdarbeiter und Zimmerleute. Die Regierung fürchtete aus irgendeinem Grund schon die bloße Illusion eines Arbeitslohns, sie machte ihn zu einer Auszeichnung, zur Prämie, und nannte diesen Arbeitslohn »Prämie«.
    Unter den ersten Häftlings-Ingenieuren, die vom Lager an den Baubetrieb verkauft wurden, war in