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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Meyerholds, dem Theater der Revolution, dem Kammertheater zuneigte. Diese Theater hatten ihre Energie und ihre Phantasie bewahrt, hatten ihre Kader bewahrt – wesentlich qualifiziertere als die »Vorzeige«-Kollektive von Jushanin. Boris Tenin und Klawdija Kornejewa, die später zum »Theater für Kinder« wechselten, sind die einzigen Namen, die die »Blauen Blusen« hervorgebracht haben. Jutkewitsch zog es zum Kino. Tretjakow und Kirssanow – zur »Neuen Lef« . Und auch der »Blaue Blusen«-Komponist Konstantin Listow wurde der »lebenden Zeitung« untreu.
    Es zeigte sich auch, dass die akademischen Theater sich von der Erschütterung erholt hatten und bereit, sogar sehr bereit waren, der neuen Macht zu dienen.
    Die Zuschauer kehrten zurück in die Säle mit dem Vorhang, auf dem eine Möwe gezeichnet war, die Jugend stürmte in die Studios der alten Theaterschulen.
    Für die »Blauen Blusen« war kein Platz mehr. Und irgendwann war klar, dass das ein Bluff, ein Trugbild ist. Dass die Kunst ihre erprobten Wege hat.
    Aber das war am Ende, am Anfang war der ununterbrochene Triumph. Mit blauen Blusen bekleidete Schauspieler betraten die Bühne – mit einem Parademarsch zum Entree begannen die Vorstellungen. Diese Parademärsche zum Entree waren immer dieselben – wie der Sportmarsch vor Radioübertragungen von Fußballspielen:
    Wir sind die Blauhemden,
    Wir sind Gewerkschafter,
    Sind keine Barden, Nachtigallen.
    Wir sind nur Rädchen
    Im großen Getriebe
    Der großen, der werktätigen Familie.
    Der Lef-Mann S.M. Tretjakow war ein Meister dieser »Rädchen und Getriebe«. Der Redakteur der »Blauen Blusen« schrieb ebenfalls einige Oratorien, Sketche und Szenen.
    Nach der Parade wurden einige Szenen aufgeführt. Die Schauspieler ohne Maske, in »Berufskleidung«, wie man später sagen wird – »ohne Kostüme« – nur Applikationen – Symbole. Die Parade schloss mit einer »Schlussvignette«:
    All unsere Lieder
    Haben wir euch gesungen,
    Haben euch gesungen alle Lieder.
    Und ohne Zweifel, wir wären glücklich,
    Wenn wir euch Nutzen bringen konnten.
    Diese dürftige Welt der Zeitungsleitartikel, im Theaterjargon nacherzählt, hatte ungewöhnlichen Erfolg. Die neue Kunst des Proletariats.
    Die »Blauen Blusen« fuhren nach Deutschland. Zwei Kollektive mit Jushanin selbst an der Spitze. Wahrscheinlich im Jahr vierundzwanzig. In die Arbeiterklubs der Weimarer Republik. Hier begegnete Jushanin Brecht und frappierte Brecht mit der Neuheit seiner Ideen. Frappierte – das ist Jushanins eigener Ausdruck. Jushanin traf sich mit Brecht so oft, wie es zu jenen Zeiten voller Verdächtigungen und gegenseitiger Verfolgung möglich war.
    Die erste Reise der »Best«-Arbeiter ins Ausland, eine Reise um die Welt, fällt ins Jahr 1933. Dort kam auf jeden Bestarbeiter ein Politkommissar.
    Mit Jushanin fuhren auch nicht wenige Politkommissare. Andrejewa Marija Fjodorowna organisierte diese Reisen.
    Von Deutschland aus fuhren die »Blauen Blusen« in die Schweiz und kehrten, erschlagen vom Triumph, in die Heimat zurück.
    Ein Jahr später brachte Jushanin zwei weitere Blaue Blusen-Kollektive nach Deutschland – die, die an der ersten Reise nicht teilgenommen hatten.
    Der Triumph war derselbe. Wieder Begegnungen mit Brecht. Rückkehr nach Moskau. Die Kollektive bereiten sich auf eine Reise nach Amerika, nach Japan vor.
    Jushanin hatte eine Eigenschaft, die ihn als Führer der Bewegung behinderte – er war ein schlechter Redner. Es gelang ihm nicht, seinen Auftritt vorzubereiten, seine Gegner in der Diskussion, im Vortrag zu schlagen. Und damals waren solche Diskussionen große Mode – Beratung folgte auf Beratung, Disput auf Disput. Jushanin war ein sehr bescheidener, sogar scheuer Mann. Und zugleich wollte er keineswegs die zweite Geige spielen, in den Schatten, beiseite treten.
    Ein Kampf hinter den Kulissen fordert viel Phantasie, viel Energie. Diese Eigenschaften fehlten Jushanin. Jushanin war Dichter und nicht Politiker. Ein dogmatischer Dichter, ein fanatischer Dichter seiner Blaue Blusen-Sache.

    Ein schmutziger Habenichts stand vor mir. Die bloßen schmutzigen Füße wussten nicht wohin – Boris Jushanin trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Die Ganoven?«, fragte ich, und zeigte mit dem Kopf auf seine nackten Schultern.
    »Ja, die Ganoven. Ich fühle mich so sogar besser, leichter. Bin braungebrannt unterwegs.«

    In den höchsten Sphären wurden schon Anordnungen und Befehle zu den »Blauen Blusen« vorbereitet –

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