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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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einmal gefragt und war bereit. Doch die Berufung weckte scharfen, wütenden Protest beim Brigadier der Packer: »Für irgendeine Kontorarbeit nimmt man mir den besten Packer. Nein, Pawel Petrowitsch. Schluss mit der Vetternwirtschaft. Ich gehe bis zu Bersin, ich entlarve euch alle.«
    Tatsächlich begann ein Untersuchungsverfahren wegen Sabotage gegen Miller, aber zum Glück erteilte ein früherer Chef dem Packer-Brigadier einen Verweis. Und Viktor Petrowitsch Findikaki kehrte zu seiner Arbeit als Ingenieur zurück.
    Wie früher schliefen wir wieder gemeinsam ein – unsere Liegen standen nebeneinander. Wieder hörte ich, wie Findikaki vor dem Einschlafen flüsterte, wie ein Gebet: »Das Leben ist Scheiße. Einfach beschissen.« Fünf Jahre lang.
    Weder der Ton noch der Wortlaut von Viktor Petrowitschs Beschwörung hatte sich verändert.
    <1967>

Boris Jushanin
    An einem Herbsttag des Jahres dreißig kam eine Häftlingsetappe an – der beheizbare Güterwagen Nummer vierzig von irgendeinem Transport in den Norden, den Norden, den Norden. Alle Strecken waren verstopft. Die Eisenbahn war der Beförderung der »Entkulakisierten« kaum gewachsen – mit Frauen und kleinen Kindern wurden die »Entkulakisierten« in den Norden geschafft, um die Kubankosaken, die im Leben noch keinen Wald gesehen hatten, in die dichte Ural-Tajga zu werfen. In die Forstbetriebe von Tscherdyn musste man schon nach einem Jahr Kommissionen schicken – die Umsiedler starben reihenweise, der Holzeinschlagplan war in Gefahr. Aber all das war später, jetzt trockneten sich die »
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« noch mit bunten ukrainischen Handtüchern ab, wuschen sich, waren froh und nicht froh über die Erholung, die Verzögerung. Der Zug wurde aufgehalten, er gab den Weg frei – für wen? – für Häftlingstransporte. Die Häftlinge wussten, sie kommen an und stehen unter dem Gewehrlauf, und dann wird jeder tricksen, seinem Schicksal die Stirn bieten, sein Schicksal »wenden«. Die Kubankosaken aber wussten nichts – nicht welchen Tod sie sterben würden, nicht wo und wann. Die Kubankosaken wurden alle in beheizbaren Güterwagen abtransportiert. Auch die Häftlingstransporte – von der Zahl her größer – wurden in beheizbaren Güterwagen losgeschickt. Echte »Stolypin«-Waggons – beheizte, gab es wenige, und für die Häftlingsetappen wurden jetzt in den Fabriken gewöhnliche Waggons der ehemals zweiten Klasse eingerichtet, bestellt. »Stolypin-Waggons« hießen diese Häftlingswaggons aus demselben Grund, aus dem man an der Kolyma die zentralen Teile Russlands »das Festland« nennt, obwohl die Kolyma keine Insel ist, sondern ein Gebiet auf der Halbinsel Tschukotka – aber der Sprachgebrauch von Sachalin, die Abfahrt nur auf Dampfern, der vieltägige Weg über das Meer – all das schafft die Illusion einer Insel. Psychologisch ist das keine Illusion. Die Kolyma – ist eine Insel. Von dort kehrt man zurück aufs »Festland«, aufs »Große Land«. Das Festland wie das Große Land – sind der Alltagswortschatz in Zeitschriften, Zeitungen, Büchern.
    Genauso hielt sich für die Häftlingswaggons mit Gittern der Name »Stolypin-Waggon«. Auch wenn der Häftlingswaggon der Version von 1907 ganz anders aussieht.
    Also, auf der Liste zu Güterwaggon Nummer vierzig standen sechsunddreißig Häftlinge. Die Norm! Eine Etappe ohne Überladung. In der Liste für den Begleitposten, von Hand geschrieben, gab es die Rubrik »Beruf«, und ein Eintrag zog die Aufmerksamkeit des Prüfers auf sich. »Blaue Bluse« ! Was ist das für ein Beruf? Nicht Schlosser, nicht Buchhalter, nicht Kulturarbeiter, sondern »Blaue Bluse«. Man sah, dass der Häftling mit dieser Antwort auf den Lagerfragebogen, auf die Gefängnisfrage etwas ihm Wichtiges festhalten will. Oder jemandes Aufmerksamkeit wecken.
    Auf der Liste stand:
    Gurewitsch Boris Semjonowitsch ( Jushanin ), Art. V-Sp. (Kürzel: »Verdacht auf Spionage«), Haftzeit 3 Jahre – undenkbar für einen solchen Artikel selbst für jene Zeiten! –, Geburtsjahr 1900 (ein Altersgenosse des Jahrhunderts!), Beruf »Blaue Bluse«.
    Gurewitsch wurde ins Lagerkontor geführt. Ein brünetter geschorener großköpfiger Mann mit schmutziger Haut. Ein zerbrochener Kneifer ohne Gläser war auf der Nase befestigt. Und noch mit irgendeinem Bindfaden um den Hals gebunden. Weder Unter- noch Oberhemd, auch keine Wäsche. Nur dunkelblaue enge Baumwollhosen ohne Knöpfe, sichtlich fremd, sichtlich Ersatz. Alles hatten natürlich die Ganoven

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