Es begann in einer Winternacht
andere Seite, drehten, wachte er nicht aus der dem Morphium geschuldeten Bewusstlosigkeit auf. Sein magerer Körper, der sich in den Falten des Nachthemdes beinahe verlor, erschreckte Evie, weil er schon so substanzlos schien. Schmerzvolles Mitleid und ein wilder Beschützerinstinkt erfüllten sie, während sie die frischen Laken und Decken bis über seine Brust zog. Sie befeuchtete ein kühles Tuch und legte es ihm auf die Stirn. Ein Seufzen drang aus seiner Kehle, und endlich öffneten sich seine Augen zu dunklen, glänzenden Schlitzen in seinem faltigen Gesicht. Er sah sie einen langen Moment verständnislos an. Dann breitete sich ein Lächeln über seine aufgeplatzten Lippen und enthüllte vom Tabak verfärbte Zähne.
„Evie“, hörte sie sein leises Krächzen.
Sie beugte sich über ihn und lächelte ihn an, während ihr Augen und Nase vor ungeweinten Tränen brannten. „Ich bin hier, Papa“, flüsterte sie und sagte die Worte, die sie ihr ganzes Leben lang hatte sagen wollen. „Ich bin hier, und ich werde dich nie wieder allein lassen.“
Er gab einen zufriedenen Laut von sich und schloss die Augen. Gerade als Evie dachte, dass er eingeschlafen sei, murmelte er: „Wo wollen wir heute zuerst hingehen, Kleines? Zum Keksbäcker, denke ich …“
Offenbar dachte er, dass es einer ihrer lang vergangenen Kindheitsbesuche war. Evie antwortete sanft: „Oh, ja.“
Hastig wischte sie sich plötzliche Tränen aus den Augen. „Ich will ein süßes Brötchen mit Zuckerguss … und eine Tüte mit Keksstücken … und dann will ich hierher zurückkommen und mit dir würfeln.“
Ein heiseres Lachen drang aus seiner gequälten Kehle, und er hustete etwas. „Lass Papa erst noch ein bisschen schlafen, bevor wir aufbrechen … du bist ein braves Mädchen …“
„Ja, schlaf jetzt“, murmelte Evie, als sie das Tuch auf seiner Stirn umdrehte. „Ich warte gerne, Papa.“
Während sie zusah, wie er wieder in seinen Drogenschlaf sank, schluckte sie den scharfen Schmerz in ihrer Kehle herunter und versuchte, sich in dem Stuhl neben dem Bett zu entspannen. Es gab keinen anderen Ort auf der Welt, wo sie lieber sein wollte. Sie rutschte ein wenig in dem Stuhl herunter, und ihre schmerzenden Schultern fielen nach unten, als sei sie eine Marionette, deren Fäden losgelassen wurden. Dies war das erste Mal, dass sie das Gefühl hatte, wirklich gebraucht zu werden und dass ihre Anwesenheit irgendjemandem etwas bedeutete. Und wenn der Zustand ihres Vaters sie auch traurig machte, war sie dankbar, dass sie die letzten Stunden seines Lebens bei ihm sein konnte. Es war natürlich lange nicht genug Zeit, einander kennenzulernen – sie würden immer Fremde füreinander sein –, aber es war mehr, als sie je zu hoffen gewagt hatte.
Ihre Gedanken wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Sie blickte hoch und sah Cam auf der Schwelle stehen. Die Arme hielt er locker vor der Brust verschränkt, sein Körper war trügerisch entspannt. Evie schenkte ihm die müde Imitation eines Lächelns. „Ich v-vermute, er hat dich geschickt, um mich zu holen?“
Es war natürlich unnötig, genauer zu definieren, wer „er“ war. „Er will, dass du mit ihm in einem der privaten Speisezimmer isst.“
Evie schüttelte leicht den Kopf. Ihr Lächeln fiel etwas schief aus. „Ich höre und gehorche“, murmelte sie, wie als Parodie eines gehorsamen Eheweibs. Sie stand auf und nahm sich noch die Zeit, die Decken über die Schultern ihres schlafenden Vaters zu ziehen.
Cam trat nicht beiseite, als sie auf die Tür zuging. Er war größer als der Durchschnitt, wenn auch nicht so groß wie Sebastian. „Wie ist es dazu gekommen, dass du Lord St. Vincent geheiratet hast?“, fragte er. „Ich weiß, dass er finanzielle Probleme hat – wir waren beinahe so weit, ihm keinen Kredit mehr zu gewähren, als er das letzte Mal hier war. Ist er mit der Idee eines Ehehandels zu dir gekommen?“
„Woher willst du wissen, dass es keine Liebesheirat ist?“, konterte Evie.
Er warf ihr einen ironischen Blick zu. „Die einzige Liebe, die St. Vincent fühlt, ist die zu sich selbst.“
Evie fühlte, wie sich ein echtes Lächeln auf ihre Lippen drängen wollte, und gab sich große Mühe, es zu unterdrücken. „Tatsächlich bin ich zu ihm g-gegangen. Das war die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, für immer den Maybricks zu entkommen.“ Ihr Lächeln verschwand, als sie an ihre Verwandten dachte. „Sind sie hierhergekommen, Cam, nachdem ich
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