Es bleibt natürlich unter uns
die Sessellehne gelegt hatte und schnippte ein Daunenflöckchen von der Krempe. — „Leben Sie wohl, Herr van Dorn. — Irgendwie hat es mir ganz gutgetan, daß wir uns gesprochen haben. Ich sah Sie ziemlich schwarz. Aber Sie sind wohl, wie wir alle, auch nur grau — mehr oder weniger...“ Er nickte Herrn van Dorn mit einer kaum merkbaren Neigung des Kopfes zu, drehte sich um und verließ das Zimmer. Der Korridor war leer. Und auch auf der Treppe begegnete er keinem Menschen.
*
Lothar Lockner stapfte am frühen Morgen durch knöcheltiefen Neuschnee zur Redaktion. Die Herausgabe der ,Hauspostille’ als
Zusatzaufgabe nahm eben doch jene Stunden in Anspruch, in denen er früher im Arbeitstempo einen kleineren Gang einschalten konnte. Außerdem aber mußte er die Nummern vorbereiten, die während seines Urlaubs erscheinen sollten. Glücklicherweise ließ die Art des Blattes, das ja keinen Wert auf Aktualität legte, eine Vorbereitung auf Wochen hinaus zu.
Es war Punkt acht — die Kirchturmuhr schlug gerade — als er sein Büro betrat. In dem Moment, in dem er den Mantel an die Tür hängte, um ihn abtropfen und trocknen zu lassen, läutete das Telefon. Ein wenig gereizt, daß man ihm nicht einmal einen Anlauf vergönnte, sich an die Büroluft zu gewöhnen, nahm er den Hörer auf. Drüben war Polizeioberwachtmeister Nirschl am Apparat, ein dicker, gemütlicher Mann, den Lothar Lockner gelegentlich mit einem Schnaps oder mit einer Zigarre traktierte, und von dem er jene Nachrichten bekam, die unter der Rubrik ,Die Stadtpolizei berichtet’ im ,Anzeiger’ zu lesen waren.
„Schönen guten Morgen, Herr Lockner, — wissen Sie schon das Allerneueste?“
„Ich bin noch nicht ganz aufgewacht...“
„Na, dann werden Sie aber bestimmt munter werden!“
„Sie spannen mich richtig auf die Folter, Herr Nirschl“, sagte Lothar Lockner und gähnte laut in den Apparat.
„Seit gestern abend ist der alte Herr Klapfenberg verschwunden, — Herr Joseph Klapfenberg.“
„Was sagen Sie da?!“ schrie Lothar Lockner und preßte den Hörer fester ans Ohr.
„Na, hab ich’s nicht gesagt, daß Sie munter werden? Jawohl, der Klapfenberg Sepp hat sein Haus um halber neun verlassen und ist seitdem nicht wiedergekommen — verschwunden — weg —“
„Das ist doch nicht möglich!“ stieß Lothar Lockner hervor.
„Was heißt: nicht möglich? Es ist Tat-sa-che! Die Familie ist völlig durcheinander. Sie steht vor einem Rätsel. Na, und ehrlich gesagt, wir hier auf der Polizei auch.“
„Verschwunden... was heißt das? Ein Mann kann doch nicht spurlos verschwinden!“
„Und ob er kann! — Vor zwei Jahren ist der alte Pfister auf dem Heimweg vom ,Alten Wirt’ abgerutscht, in die Ache gefallen, und vier Wochen später hat ihn der Knecht vom Angermüller am Mühlenwehr rausgefischt. Natürlich war er b’soffen, der alte Hosenscheißer... ah so, Sie haben den Pfister nicht gekannt... Ich wollt damit auch nur sagen, daß einer schon mal spurlos verschwinden kann, wenigstens für ‘ne gewisse Zeit. Und die Ache führt im Augenblick ein ganz schönes Hochwasser. Bloß, daß die Familie es ganz entschieden abstreitet, daß der Klapfenberg Sepp besoffen war. Und er ist auch in keiner Wirtschaft gesehen worden..
„Und außerdem gehörte er wohl zu jenen, die nicht mehr tranken, als sie vertrugen...“
„Sehr richtig, Herr Lockner, und das ist es ja eben, was die Geschichte so rätselhaft macht. Und ich mein’, der alte Kapellenrutscher war auch keiner von jenen, die das warme Brot mal schnell außer Haus trugen... Sie verstehen mich schon...!“
„Das ist ja eine merkwürdige Angelegenheit...“, murmelte Lothar Lockner betroffen; „halten Sie mich doch bitte auf dem laufenden, Herr Nirschl! Vielleicht komme ich später mal bei Ihnen auf ‘nen Sprung vorbei...“
„Jederzeit zu Diensten, Herr Lockner... und Servus derweil!“
Lothar Lockner wählte die Hausnummer des Chefs, der sich von seiner Grippe noch immer nicht recht erholt hatte. Das Essen schmeckte ihm nicht, die Pfeife schmeckte ihm nicht, und das Bier hatte ihm der Arzt verboten; das ganze Leben war nichts mehr wert. Er reagierte auf Lockners Anruf, als verbäte er sich solche Scherze auf den nüchternen Magen: „Verschwunden... Erzählen Sie mir doch keine Märchen, Lockner! Der Klapfenberg Sepp ist Sechzig... ein gefährliches Alter für ‘nen Mann... kenn ich selber... da packt’s manchen noch einmal... Alte Scheunen — na, Sie wissen ja...
Weitere Kostenlose Bücher