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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bevorzugt an sein Ohr …«
    So begann der Weg Matilda Felixownas aus dem Morast der Krasnogarygasse in die Sonne der Kunst. Ein harter Weg aus Schweiß, Tränen, Disziplin und Selbstverleugnung, aus Resignation, Zweifeln, Aufbäumen und grenzenloser Liebe zum Tanz.
    »Auch ich war ein armes Kind«, hatte die Jegorowna damals an diesem Sommertag 1884 zu Rosalia Antonowna gesagt. »Man erzählt sich, mein Vater habe in Nowgorod eine Malzmühle betrieben. Ich habe nie widersprochen. Sollte ich sagen, daß mein Vater ein Leibeigener war, der erst 1861 ein freier, vollgültiger Mensch wurde und kein Tier mit einem menschlichen Aussehen mehr? Sei stolz … du warst die Magd eines Grafen! Ich war in meiner Jugend nicht mehr als der Wurf einer Hündin. Und was ist aus mir geworden?«
    Nach diesem Satz brach in Rosalia Antonowna etwas auf oder zusammen, wie man es sehen will. Sie hatte genickt, Matilda an sich gezogen und sehr ernst gesagt:
    »Gut denn. Soll sie zum Kaiserlichen Ballett. Aber ich hacke euch alle zusammen, wenn sie die Geliebte eines dieser feinen Herrchen wird …«
    Daher kann man verstehen, daß Rosalia in große Panik geriet, als man an jenem 15. Oktober Matilda in einer Hofkutsche nach Hause brachte, bleich, sehr verwirrt, wortlos, mit weltfernen Augen, und als ein junger Leutnant der Garde, der Matilda stützte und bis ins Zimmer führte, so einfach erklärte:
    »Sie muß absolute Ruhe haben, Madame!«
    Rosalia zuckte etwas zusammen; es war das erstemal, daß man sie so nannte und sie war sich nicht im klaren darüber, ob ›Madame‹ eine Ehre oder eine Beleidigung war.
    »Demoiselle ist in Ohnmacht gefallen. Der Zarewitsch hat ihr die Hand geküßt …«
    Es fehlte nicht viel und auch Rosalia wäre umgesunken. Sie klammerte sich an der Tischkante fest, betrachtete ihr Töchterchen, das sich auf das vor kurzem gekaufte richtige Bett legte und wie sterbend die Augen schloß, und sagte dumpf:
    »Der Zarewitsch? Er hat sie geküßt? Jetzt fällt der Himmel ein! Und wer sind Sie, Hochwohlgeboren?«
    »Boris Davidowitsch von Soerenberg, Leutnant der Garde.« Der junge Offizier nahm seine Mütze ab. »Darf ich bei Demoiselle bleiben, bis sie sich beruhigt haben wird?«
    Rosalia Antonowna nickte wortlos. In ihrer Kehle saß ein harter Kloß wie damals, als sie feststellte, daß sie schwanger war und keinen Vater nennen konnte.
    »Was nun?« fragte sie hilflos.
    »Ich habe den Auftrag Seiner Kaiserlichen Hoheit, mich um die Demoiselle Matilda zu kümmern.« Boris Davidowitsch setzte sich auf die Kante des Stuhles und blickte hinüber zu Matilda. Sie lag bleich und unaussprechlich schön auf dem Bett und atmete kaum. »Bitte, verfügen Sie über mich, Madame.«
    Das war der Augenblick, in dem Rosalia Antonowna bewußt wurde, daß sich auch ihr Leben geändert hatte. Es war unmöglich, fernerhin auf dem Markt von Sennaja Ploschtschad Gurken, Zwiebeln, Rüben und Gemüse zu verkaufen, wenn der russische Thronfolger ihrer Tochter die Hand küßte.

IV
    In der Ansammlung von Krüppeln und Dieben, Schiefmäuligen und Zerlumpten fiel es nicht auf, wenn ein häßlicher Zwerg mit einem Wasserkopf herumtrippelte und die Krasnogarygasse suchte. Man nahm ihn sozusagen in dieser Gegend nicht wahr. Er war so vollkommen in diesen Unrat passend, daß nicht einmal die im Dreck spielenden Kinder, die aus dem schmutzigen Schnee Burgen und Gräben bauten, ihm nachblickten oder seine Spinnenbeine bewunderten.
    Vor dem Haus des Trödlers Minajew blieb der Zwerg stehen, blickte die Hauswand empor und nickte mehrmals. Minajew, der hinter seiner Theke hockte, sträubten sich die Nackenhaare wie bei einem Hund, der eine Katze wittert. Er schoß durch den engen Laden, flitzte, so schnell es seine Beine und seine ihn seit einem Jahr quälende Gicht zuließen, auf die Straße und fing das kleine Ungeheuer mit dem dicken Kopf ab, als es gerade die Haustür aufdrückte.
    Er riß den Zwerg zurück und schrie sofort: »Wohin, du Mißgeburt? Verirrt hast du dich! Hier ist nicht der Eingang zur Hölle!«
    »Ich bin richtig«, sagte der Zwerg höflich. »Laß mich los, du Holzwurm, du faulender. Hier wohnt Madame Bondarewa …«
    »Welche Madame?« Minajew riß den Mund auf, ließ den Zwerg los und zerzauste sein graues Haar. »Hüpf schnell weg, du Kröte, ehe ich dich erdrücke!«
    »Warum sind normale Menschen so dumm?« fragte der Zwerg. Er hob das rechte Ärmchen, seine Finger wurden zu Krallen und hackten Minajew in die Schulter. Der Alte

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