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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Tschaikowsky noch lebte, würde er mir recht geben! Zweifeln Sie etwa daran? Meine Baßstelle drückt die höchsten Gefühle aus – nicht nur eine Begleitung, wie Sie es sehen! Meine Herren, ich rufe Sie als Zeugen an: Wer hat recht?«
    Das war so eine Situation, die ausreichte, Marabow trotz seines Titels Kaiserlicher Hofkapellmeister tief zu bedauern.
    Das Orchester schwieg, man wollte nicht für den Zaren Zeuge sein, zumal man Marabow zustimmen mußte, daß der Kontrabaß des Zaren hier nur Begleitung war – an dieser Stelle … Da ließ General Dschingis-Khan seinen Schlegel auf die Pauke sausen. Es donnerte gewaltig.
    »Was soll das heißen?« brüllte der Zar.
    »Marabow hat recht«, brüllte Dschingis-Khan zurück. »Majestät, Sie bleiben im Hintergrund. Tschaikowsky wollte es so! So steht es in der Partitur!«
    »Man kann unrichtige Dinge berichtigen!« sagte Alexander III. beleidigt. »Auch Komponisten können sich irren! Ein Zar nie! Ist das bekannt?«
    »Bei ›Schwanensee‹ nicht, Majestät!« General Dschingis-Khan nickte dem armen Dirigenten aufmunternd zu. »Los geht es, Wladimir Jewsewitsch! Haben Sie an meinem Paukenwirbel etwas auszusetzen?«
    »Nein, nichts, General …«
    »Aha!« Dschingis-Khan blickte den Zaren triumphierend an. »So etwas muß man eben im Gefühl haben!«
    Nur weil der Zarewitsch laut lachte, gab es keinen neuen Anfang. Resignierend ließ Marabow den Taktstock sinken.
    »Wer lacht da?« brüllte der Zar zu den verdunkelten Logen hinauf.
    »Dein Sohn, Väterchen!«
    »Niki?« Der Zar legte seinen Bogen beiseite. »Hast du das gehört? Alle sind gegen mich, jetzt sogar im Orchester! Überall Rebellion, überall Aufstand! Man gönnt mir nicht einmal mehr eine eigene Auffassung am Kontrabaß. So weit ist es mit uns gekommen, mein Sohn. Bist du allein?«
    »Nein. Matilda Felixowna ist bei mir, Vater.«
    »Herunter mit ihr!« Der Zar legte beide Hände über die Augen und starrte hinauf zur Loge. »Wo sind Sie?«
    »Hinter der Brüstung, Vater. Sie macht gerade einen Hofknicks!« Nikolai lachte wieder. »Du hast sie erschreckt, Vater!«
    »Kommt herunter!« Der Zar winkte mit beiden Händen. »Bei ihrem Solo werde ich mit dem Baß hervortreten, daß die Seele zittert. Ob's nun dem Marabow und Dschingis-Khan gefällt oder nicht. Mir wird es gefallen! Wenn ich Tschaikowsky noch sprechen könnte, würde er die Stelle sofort umschreiben! Meine Herren, proben wir weiter!«
    Unter den Melodien von ›Schwanensee‹ stiegen Matilda und der Zarewitsch zum Orchester hinunter.
    Der Zar strich über seinen Baß und lachte ihnen entgegen.
    Es war eine der wenigen Stunden, in denen der mächtigste Mann der Erde beinahe glücklich war.
    Nur wenigen Sterblichen wurde die Ehre zuteil, vom Zaren empfangen und angesprochen zu werden. Nur ganz wenigen Menschen hatte er die Hand gedrückt und zu ihnen gesagt: »Setz dich neben mich!« und fast keinem hatte er gestanden: »Ich war begeistert!«
    Zar Alexander III. war das, was man einen Klotz von Mann nennt. Groß, bullenstark, polternd, sich seiner Allmacht voll bewußt, ein Gott in Menschenkleidern, ein absoluter Herrscher mit einem eisernen Schädel, aber ganz tief verborgen mit einem weichen Herzen, das allerdings nur die wenigsten erkannten, schon gar nicht seine nächsten Angehörigen.
    Er regierte Rußland streng und gerecht, wie er meinte, war tief religiös, achtete die Familie und die eheliche Treue, hielt sich nicht, wie seine Vorgänger, Mätressen und baute ihnen Schlösser in den schönsten Gegenden, er kannte auch den Begriff ›Günstlinge‹ nicht – eitle, gerissene Speichellecker, die den Zaren berieten und dafür mit Landgütern belohnt wurden –, Alexander III. vertraute vielmehr seinem eigenen Gespür, umgab sich mit wenigen Beratern und entschied trotzdem oft selbstherrlich, sehr zum Ärger der Duma, des russischen Reichstages, die sich als echtes politisches Organ auffaßte und den Zaren immer stärker zu einer reinen Repräsentationsfigur machen wollte.
    Vor allem die jungen, progressiven Politiker schürten einen massiven Gegensatz zum Haus Romanow und propagierten eine neue Freiheit, die Regierung des Volkes, durch gewählte Vertreter der breiten Masse. Zar Alexander III., dieser massige Bär auf dem Thron, betrachtete diese Bestrebungen gelassen oder knurrend, je nach Stimmung. Wer zu laut wurde, bekam wie eh und je eine Fahrkarte nach Sibirien und verschwand in der grenzenlosen Weite der Taiga … Darin hatte sich

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