Es blieb nur ein rotes Segel
nichts geändert in der tausendjährigen Geschichte Rußlands.
Ob der Zar beliebt war beim Volk – wer kann das sagen?
Das russische Volk hat wohl noch nie einen Zaren geliebt, es hat ihn immer nur geachtet, gefürchtet, erduldet, von Gott gesandt betrachtet, eine der Plagen des Himmels, gegen die man machtlos ist. Wer kann einen Sturm aufhalten? Wer das Eiswasser des Jenessej bremsen? Wer den Himmel verschließen, damit es nicht mehr schneit? Brüderchen, und du willst den Zaren abschaffen? Geh, zünde eine große Kerze an für deinen kranken Geist …
Matilda setzte sich neben den Zaren auf einen der Orchesterstühle, nachdem er sie aus ihrem tiefen Hofknicks zu sich emporgehoben hatte.
Wladimir Jewsejewitsch Marabow klopfte die Probe ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte sich, wie das Konzert in einer Stunde ohne Blamage über die Bühne gehen sollte. Auch der Großfürst Iwan, der die Soloflöte blies, kiekste ab und zu und konnte den Ton nicht halten – was für Marabow, dem man das absolute Gehör nachsagte, eine tiefe Qual war –, aber wenn man einen Zaren im Orchester hat, kann man nicht einfach brüllen: »Was soll denn das? Bei einer Probe Privatgespräche? Hinaus mit allen, die hier nicht spielen!«
Beruhigend war nur, daß nachher die feine Gesellschaft auch Beifall klatschte, wenn man hier und da Tschaikowsky etwas vergewaltigt hatte.
»Du tanzt wie eine Elfe«, sagte Alexander III. zu Matilda. »Ich habe schon viele Tänzerinnen erlebt, aber du hast von allen die größte Zukunft!« Er duzte sie ganz selbstverständlich, sie war ein Kind des Volkes, seines Volkes, er war aller Vater! Sie Demoiselle zu nennen, wie der Zarewitsch es tat, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
»Du wirst dazu beitragen, daß man Rußland in aller Welt lieben wird. Was die Diplomaten zerschlagen, muß die Kunst kitten! – Eigentlich sollte man nur Sänger, Tänzer, Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Schauspieler zu Diplomaten machen. Sie sind die einzigen, die den wirklichen Wert eines Volkes darstellen.«
»Majestät haben die Musiker vergessen«, sagte Marabow schüchtern.
»Und das Militär!« knurrte General Dschingis-Khan vernehmlich.
»Da hörst du es!« Der Zar streichelte Matilda die Wange. »Alle wollen etwas zu sagen haben! Wo soll das hinführen? Ein Glück, daß ich die lauteste Stimme habe!« Er umfaßte wieder seine Baßgeige, blinzelte Matilda zu und hob den Bogen. »Weitermachen!« kommandierte er. »Marabow, Sie Krähe, warum hacken Sie immer auf mir herum? Haben Sie nicht das fürchterliche Tremolo von Großfürst Iwan gehört?«
Nikolai Alexandrowitsch zog Matilda mit sich fort. Die Audienz war beendet. Sie verließen das Orchester, der Zarewitsch brachte Matilda in ihre Garderobe und küßte sie zum Abschied auf die Augen. »Es bleibt dabei?« fragte er. »Wir fahren nach der Vorstellung zu dir?«
»Mama freut sich. Es ist für sie der schönste Tag ihres Lebens.«
Das war – um es milde auszudrücken – falsch interpretiert. Rosalia Antonowna war nicht beseligt vor Glück, – sie war ein brüllender Vulkan vor Verzweiflung.
Im Stroitskypalais klappte nichts.
Was der Bondarewa jahrzehntelang mit Bravour gelungen war, geriet jetzt völlig daneben: Ihr Glanzstück, der Butterkuchen vom Ilmensee, war glitschig!
Dafür entwickelte sich der Honigkuchen der Köchin zu einem Prachtstück! Wer kann so etwas ertragen?
Rosalia Antonowna wurde nur durch die Gegenwart von Mustin Fedorowitsch daran gehindert, die erfolgreiche Köchin zu ohrfeigen. Daß sie den Haushofmeister einen kastrierten Esel nannte, konnte er nicht verhindern.
Als das Chaos begann, unentwirrbar zu werden und Rosalia Antonowna zu Mustin sagte: »Bevor der Zarewitsch eintrifft, hat mich der Schlag getroffen! Mustin, mein Lieber, habe ich solch ein Ende verdient?«, brachten zwei kaiserliche Kutschen einen großen, vergoldeten Samowar, Meißener Porzellan, vergoldete Bestecke, gewaltige Torten aus Sahne und Creme, wahre Kunstgebilde, als habe ein Bildhauer an ihnen gearbeitet, schwere Damastdecken und Kristallgläser aus dem Böhmischen.
Das alles trugen vier livrierte kaiserliche Diener herein, kommandiert von einem ganz vornehmen Hofbeamten in einem seidenen Frack. Auch ein Koch war mitgekommen, ganz in Weiß mit einer riesigen Kochmütze, auch sehr vornehm, zurückhaltend und wortkarg.
Er besichtigte die Küche, fand sie annehmbar, schnupperte an dem Honigkuchen der Köchin und sagte: »Mamsell, Sie
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