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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Entzündung beeinflussen und die Steine zum Abgang bringen.«
    »Operieren?«
    »Eine Nephrotomie? Bei zwei Nieren? Unmöglich! Eine Niere braucht der Mensch.«
    »Aber meine beiden sind Wracks, nicht wahr?«
    Der Leibarzt schwieg. Was sollte man darauf antworten? Bewahrheitete sich die Diagnose, sollte man den Zarewitsch schnellstens auf sein neues Amt als Zar vorbereiten. Eine beiderseitige Nephritis …
    Bei jedem anderen Patienten als dem Zaren hätte man gesagt: Väterchen, bete! Gott hat die Tür schon offen …
    Drei Tage später wurde Alexander III. von einem Ärztegremium untersucht. Auch die Laborergebnisse lagen vor.
    Die erste Diagnose wurde bestätigt: Der Zar besaß zwei unheilbar krank gewordene Nieren.
    Der starke Bär war morsch.
    Wer wagte es, das dem Zaren zu sagen?
    Es gab nur eine Möglichkeit … der Leibarzt zog die Familie ins Vertrauen.
    Der Onkel des Zaren, Großfürst Michael, ein Sohn Alexanders I., der Älteste der Familie also, übernahm es, Alexander III. schonungslos die Wahrheit zu sagen.
    An einem Vormittag im Februar saßen sie sich gegenüber. Ruhig, gefaßt und milde nahm der Zar das Urteil hin. Er hatte es erwartet, und er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß er selbst viel dazu beigetragen hatte. Er wollte nie krank sein, auch dann nicht, als er die ersten Anzeichen spürte und sie zähneknirschend verdrängte.
    »Niki muß eine Frau bekommen!« sagte Großfürst Michael ernst. »Er muß an der Seite einer würdigen Zarin den Thron besteigen.«
    »Alice von Hessen?«
    »Die Gelegenheit ist einmalig günstig. Im April heiratet Ernst, Großherzog von Hessen, die Prinzessin Viktoria von Coburg. Es wird eine der glanzvollsten Hochzeiten des Jahrhunderts werden. Wir sollten Niki als Vertreter der russischen Krone hinschicken. Dort wird er Alice begegnen.« Michael sah seinen Neffen forschend an. »Wir haben in der Familie schon darüber gesprochen, Sascha. Niki weiß Bescheid.«
    »Die Verschwörung am noch atmenden Leichnam!« sagte der Zar sauer. »Und was meint Niki?«
    »Er weigert sich! Er liebt Matilda Felixowna …«
    »Als Zarewitsch! Aber nicht mehr als Zar!« Alexander III. stand auf. Großfürst Michael sah bewundernd zu ihm auf …, dieser Klotz sollte todkrank sein? Undenkbar! Unfaßbar! »Es geht noch heute ein Befehl an den Zarewitsch heraus: Ich fordere den Thronfolger auf, sich bei der Hochzeit des Großherzogs von Hessen um die Hand von Alice von Hessen zu bewerben!«
    »Wir werden Sergej und Wladimir vorschicken und die Stimmung bessern«, sagte Großfürst Michael. »Wenn Niki ankommt, findet er bereits offene Ohren.«
    Der Zar nickte zufrieden.
    Also, dachte er, knüpfen wir die Verwandtschaften noch enger! Für den Frieden in der Welt ist es gut, bald sind wir alle miteinander verwandt: das englische Königshaus, das deutsche Kaiserhaus, der Hochadel ganz Europas …
    Das Schlimme ist nur, daß sich Verwandte oft noch mehr hassen können als ganze Völker! Gott schütze Rußland.
    Ein paar Tage später sagte Niki zu Matilda: »Vater ist sehr krank. Begrabe dieses Wissen tief in deinem Herzen. Keiner ahnt es! Ich muß in den nächsten Tagen nach Deutschland, um an einer Hochzeit teilzunehmen. Wenn ich aus Hessen zurückkomme, werde ich dir viel zu sagen haben.«
    Sie küßten sich. Und seit langer Zeit lag in den Augen des Zarewitsch erneut die alte Wehmut, die Matilda längst überwunden glaubte.
    Vom Fenster winkte sie ihm noch nach, wie er durch die Nacht davonritt, von Boris Davidowitsch, dem großen Dulder, begleitet.
    Übrigens – Soerenberg verstand kaum jemand mehr. Nur der Zwerg Mustin sagte einmal zu Rosalia Antonowna:
    »Wo gibt es noch einen so edlen, treuen Menschen? Glaube mir, er wird belohnt werden. Bald wird er Matilda für sich allein haben …«
    Am 4. April 1894 traf Nikolai Alexandrowitsch in Hessen ein. Boris Davidowitsch begleitete ihn mit einer Eskorte Gardehusaren.
    Die Luft knisterte vor Spannung. Mit dem russischen Thronfolger war ein Teil des Schicksals dieser Welt nach Deutschland gekommen.
    »Ich stand plötzlich einem Parterre von Königen gegenüber«, schrieb der Zarewitsch in sein Tagebuch.
    Das war nicht übertrieben. Als er am 5. April das Schloß betrat, waren alle schon anwesend und warteten auf ihn: die absolute Patriarchin aller Herrscherhäuser, die alte Victoria von England, die ›Mutter Europas‹, wie sie genannt wurde; Kaiser Wilhelm II. von Deutschland in der strahlenden Uniform des Garde du Corps,

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