Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
Frage, Sie wären zu boshaft zu ihr. Bei Clémence muß man mit Feingefühl vorgehen. Seit siebzig Jahren hat sie nur eine einzige Idee, eine Liebe und einen Mann zu finden, wenn möglich beides zusammen, eine Seltenheit also. Sehen Sie, Charles, jedem sein großes Elend. Liebe hat sie mehr als genug, es passiert ihr, daß sie sich allein auf eine Kontaktanzeige hin verliebt. Sie reagiert auf alle Kontaktanzeigen, in die sie sich verliebt, sie antwortet, geht hin, wird gedemütigt, kommt zurück, fängt von neuem an. Sie scheint ein bißchen einfältig, ein bißchen entmutigend vor lauter Liebenswürdigkeit und mühseligen Aufmerksamkeiten, wenn sie immer ihr Taschenkartenspiel aus ihren dicken Hosen zieht, um Wahrsage-Patiencen zu legen. Damit beschreibe ich Ihnen jetzt ihren Kopf, da Sie die skurrile Vorstellung haben, nichts zu sehen: ein nicht gerade einnehmendes, schmales, maskulines Gesicht mit kleinen spitzen Spitzmauszähnen, Crocidura russula, man hätte Angst davor, die Hand hineinzuhalten. Sie schminkt sich zu stark. Ich habe sie für zwei Tage in der Woche eingestellt, daß sie meine gesamten Unterlagen neu ordnet. Sie ist genau und geduldig, als ob sie nie sterben würde, und das beruhigt mich manchmal. Sie ist bei der Arbeit mit den Gedanken woanders, brabbelt dabei von ihren Wünschen und Enttäuschungen, rekapituliert ihre hypothetischen Verabredungen, übt ihre Liebeserklärungen im Vorfeld, und trotzdem ordnet sie eifrig, obwohl ihr die Fische genau wie Ihnen egal sind. Das muß Ihre einzige Gemeinsamkeit sein.«
»Glauben Sie, daß ich mich mit ihr verstehen kann?« fragte Charles.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden sie praktisch nie zu Gesicht bekommen. Immer draußen, immer auf der Suche nach einem Gatten. Und Sie mögen ja ohnehin niemanden, was hat es also für eine Bedeutung, wie meine Mutter immer gesagt hat?«
»Das stimmt«, bemerkte Charles.
***
Sieben Tage später, am Donnerstag morgen, wurde in der Rue de l'Abbéde-1'Épée ein Weinkorken gefunden und in der Rue Pierreet-Marie-Curie, im 5. Arrondissement, eine Frau mit durchschnittener Kehle, die ihre Augen zum Himmel verdrehte.
Trotz des Schocks konnte Adamsberg sich den Gedanken nicht verkneifen, daß die Entdeckung zu Beginn einer Phase 2 stattgefunden hatte, der Phase des Lächerlichen, daß der Mord aber am Ende von Phase l begangen worden war, der ernsthaften Phase.
Adamsberg ging mit einem weniger vagen Ausdruck als sonst im Zimmer auf und ab, das Kinn vorgestreckt, die Lippen geöffnet, als sei er außer Atem. Danglard sah, daß er beschäftigt war, auch wenn er nicht den Eindruck machte, als konzentriere er sich sehr. Bei dem vorherigen Kommissar war es umgekehrt gewesen. Er war unaufhörlich in seinen Überlegungen versunken gewesen. Der vorherige Kommissar war ein ewiges Grübeln gewesen. Adamsberg dagegen war für jeden Windhauch offen, wie eine Bretterbude, ein Hirn in freier Luft, dachte Danglard. Stimmt, man hätte glauben können, daß alles, was durch die Ohren, Augen oder Nase in ihn Eingang fand, Rauch, Farbe, Papierrascheln, wie ein Luftzug über seine Gedanken strich und sie daran hinderte, Gestalt anzunehmen. Dieser Typ, sagte sich Danglard, ist allem gegenüber aufmerksam, was dazu führt, daß er sich auf nichts konzentriert. Die vier Inspektoren gewöhnten sich sogar schon an, in seinem Büro ein und aus zu gehen, ohne je Angst zu haben, den Fluß wovon auch immer zu unterbrechen. Und Danglard hatte sehr wohl gesehen, daß Adamsberg in manchen Momenten noch stärker woanders war als sonst. Wenn er kritzelte, und zwar nicht auf seinem angewinkelten rechten Knie, sondern indem er das kleine Stück Papier gegen seinen Bauch drückte, dann sagte sich Danglard: Wenn ich ihm jetzt verkünde, daß ein Pilz gerade den Planeten anknabbert, bis er die Größe einer Pampelmuse haben wird, dann wird ihm das vollkommen egal sein. Dabei wäre das sehr schlimm, denn auf einer Pampelmuse haben nicht besonders viele Menschen Platz. Man braucht nicht sehr helle zu sein, um das zu verstehen.
Auch Florence beobachtete den Kommissar. Seit ihrer Diskussion mit Castreau hatte sie weiter nachgedacht und verkündet, der neue Kommissar mache auf sie den Eindruck eines etwas zerfurchten, verwüsteten florentinischen Fürsten, den sie auf einem Gemälde in einem Buch gesehen habe, aber in welchem Buch, das wußte sie jetzt nicht mehr. Auf jeden Fall würde sie sich gerne wie bei einer Ausstellung auf eine Bank
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