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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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waren nur Schlangen. Und dann mit der Maschinenpistole hysterisch draufhalten, im Namen des Volkes und für das Elend der Massen. Da frage ich mich, ob der Herr Doktor und seine Kombattanten ihre Sinne noch beieinander hatten.
    Sissi blickt ihn wider Erwarten an, die mageren Arme verschränkt. Ihr zu kurzes T-Shirt ist hochgerutscht und gibt ein Stück des nackten Bauches frei. Mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit sagt sie:
    – Das verstehst du eben nicht, dazu bist du zu alt.
    Dabei ist eine solche Traurigkeit in ihrer Stimme, daß Peter jedes weitere Wort vergeht.
    Er seufzt einmal tief, das hilft, Spannung abzubauen. Er fühlt sich ausgelaugt, er ist es auch.
    – Morgen sind wir am Meer, da schaut die Welt ganz anders aus.
    Er startet den Motor, kuppelt und sagt:
    – Dann können wir ja wieder.
    Here we go … Here we go. Und so fahren sie schweigend, obwohl alle nicht aufs Maul gefallen, also desto schlimmer, unter der hohen Wölbung des Himmels mit der Sonne schon nicht mehr ganz so hoch oben, mit den Schatten schon nicht mehr ganz so hart, begleitet vom Hunger der Vögel, die schwarze Querlinien in das Blau ritzen, durch windüberpfiffene Dörfer, zwischen Sonnenblumen, die in staubigen Gärten stieren, an Leibnitz vorbei, über die Mur und immer geradeaus, der Brückenwirt, bevor die Straße erneut über die Mur setzt, zwanzig Schilling für den, der mir sagt, wie oft wir die Mur heute queren, falsch, mein Sohn, da vorne das siebente Mal, und langsam, langsam, da haben wir die Bescherung. Denn: Denn unmittelbar vor dem nördlichen Brückenkopf stößt der Wagen ans Ende des Staus, der sich nach vorne zum Grenzübergang streckt, Spielfeld, auch Spielfeld (gemeinsam mit Straß) eine der 88 (später 92) Stationen in Peters – ehemaligem? – Spiel, Wer kennt Österreich? an dem jetzt andere verdienen, eine Station wie heute schon? na? na? wer kann sie mir aufzählen? Wien und? Noch mal zwanzig Schilling. Doch selbst Peter hat seine liebe Not, die Stationen zusammenzubringen, er denkt nach, mit dem Geruch des Meidlinger Magazins unter der Schädeldecke: Holzstaub, verschütteter Leim, feuchtes Papier und Asche, Asche, als er und die schwangere Ingrid im Herbst 1960 alles ausräumten und die restlichen Kartons und Spielfiguren und den ganzen Müll (den Bärenpelz) am Vorplatz verbrannten. Soll ich es euch sagen? Seid ihr alle da? Wien, Leobersdorf, Wiener Neustadt, Semmering, Bruck, Graz, Spielfeld/Straß.
    Wer kennt Österreich?
    So langsam, doch, so langsam, tatsächlich, macht man sich ein Bild.
    Sissi hat ihre verspiegelte Sonnenbrille auf. Sie blickt geduckt, ein wenig gepeinigt, wie es scheint, zur Seite, doch ohne recht durchblicken zu lassen, wie’s ihr – die wahrhaftige Wahrheit – geht. Auf alle Fälle ist sie schaumgebremst (um ihre eigene Diktion zu verwenden). Als Peter aussteigt, da er sich einen Überblick über die Situation verschaffen will, und Philipp ihm folgt, macht Sissi keinerlei Anstalten, ebenfalls aus ihrer Verschanzung zu kommen. Peters Frage, ob er sie auf den Zug bringen soll, damit sie nach Wien zurückkehren kann, scheint sie gar nicht zu hören, und wenn doch, läßt sie sich trotzdem zu keiner Reaktion herbei.
    Da soll sich einer auskennen. Er weiß beim besten Willen nicht, was das für eine merkwürdige Phase ist, die das Mädchen gerade durchläuft. Aber was er weiß, ist, daß dies der letzte Urlaub mit ihr sein wird, und das tut ihm leid, weil sie trotz ihrer Mucken ein lieber Kerl ist. Im nächsten Schuljahr wird sie das Gymnasium beenden, und wenn sie erst mit dem Studium begonnen hat, wird sie daheim nicht mehr zu halten sein, da macht er sich nichts vor. Sie wird ihm abgehen, bestimmt. Hoffentlich kommt sie oft vorbei zum Essen oder wenn sie von einem Freund den Weisel bekommen hat. Einmal (nur): Weil ein Junge von den Pfadfindern sie ausgenutzt hatte. Sie war todunglücklich und weinte. Peter tröstete sie mit seinen allgemeinen und lahmen Floskeln, die ansonsten ihr Mißfallen erregen. Aber er hielt ihre Hand, und sie hielt seine und schlief oben bei ihm ein. Ist schon eine Weile her, vor anderthalb Jahren. Auch seither gibt es immer wieder Momente, in denen sie seine Nähe zu suchen scheint. Aber die meiste Zeit verhält es sich so, daß sie lautlos die Türen öffnet und wieder schließt und sich auf Zehenspitzen durchs Haus drückt und daß sie immerzu sehr ausführlich den Kopf schüttelt, einerlei, was er macht, ob er ein Glas Wasser

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