Es geht uns gut: Roman
Rückkoppelung.
Abermals setzt sich die Kolonne für zwei Wagenlängen in Bewegung.
Peter schaut sich um:
– Ich muß dann wieder.
Er schüttelt dem Gastarbeiterpaar die Hände und geht zurück, damit sein Ausbleiben zu keiner weiteren familiären Verstimmung führt.
Als sein Wagen wieder in Sicht kommt, hebt er nochmals die Schmalfilmkamera und richtet sie auf die Kinder am Straßenrand. Sissi macht für die Kamera mit ausdruckslosem Gesicht Hampelmänner. Philipp markiert den starken Mann, indem er auf die Zähne beißt, die Mundwinkel heftig nach unten zieht und seinen lächerlichen Bizeps demonstriert. In den Bewegungen der Kinder ist noch immer etwas vom Streit, ein Abglanz der Handgreiflichkeiten, des Zorns und der Hilflosigkeit. Und doch liegt eine verblüffende Schönheit in diesem Versuch, einen Beitrag zum Familienarchiv zu leisten, eine Kraft und Schönheit, die in Peter ein Gefühl hochsteigen läßt, das man ruhig Zärtlichkeit nennen darf.
– Und was ist das? fragt er mit vorsichtiger Befangenheit, nachdem er die Kamera gestoppt hat.
Das sind T-Shirts von Sissi. Warum fragen? Sie liegen zum Trocknen auf der Motorhaube und am Deckel des Kofferraums. Über dem Rückspiegel der Fahrerseite hängt ein Lumpen, den Sissi unter dem Gepäck hervorgegraben und mit dessen Hilfe sie den Lack notdürftig von Schmutz befreit hat. Peter filmt auch die T-Shirts. Er geht sehr nahe ran. Später einmal, wenn er zu Hause im Keller eine Vorführung gibt, werden die kräftigen Batikfarben blaß sein und etwas zusätzlich Körniges und Weiches haben, wie die Luft in der Früh, wie etwas, das seine Bedeutung erst in der Zukunft zugewiesen bekommt, wie etwas, das sich erst in der Zukunft begibt.
– Ich gehe bis zur Grenze zu Fuß, sagt Sissi.
Und weg ist sie.
Peter blickt ihr hinterher mit einem Gefühl des schleichenden Verlusts. Wie sie stolpert im Schotter des Straßenbanketts, ein unglückliches Mädchen in Schuhen, die gut aussehen, in denen sie aber fürchterlich schwitzen muß. Ihr Haar. Ihr Rücken. Ihr Hintern. Und daß sie sich nicht umdreht. Das beklemmt ihn, obwohl er weiß, es ist das, was sie jetzt braucht, anderthalb Stunden, in denen sie ihrer Familie entrinnt und auf sich selbst gestellt ist, ein Gefühl (die konkrete Erfahrung der Freiheit?), das ihre Sehnsucht mildert und sie der Antwort auf die Frage näherbringt, die sich Dschingis-Khan inmitten der Mongolenzüge gestellt hat: Wo nur bin ich in diesem Strom?
– Sie ist nicht gut drauf, sagt Philipp.
– Das scheint mir auch so, sagt Peter.
Langsam vollzieht sich der Ablauf der Zeit. Die Sonne verglüht, die orangefarbene Scheibe sackt ab, tiefer und tiefer, verwaschen im Dunst, streift einen bewaldeten Hügel hinter dem Schloß von Spielfeld, gleich darauf, rötlicher, nachdem Peter den Wagen ein Stück nach vorne gesetzt hat, steht sie wieder frei am Himmel, in einer westlichen Landschaftskerbe. Die Unebenheiten in der Ferne glätten sich ein. Ein leichter Wind kommt auf. Dann ein Sonnenuntergang wie ein Gemetzel. Die bewaldeten Hügel scheinen der Sonne hinterher unter die glitschige Horizontlinie zu stürzen. Und der Himmel reißt sich drachengleich los und löst sich in der Höhe in nichts auf.
Freitag, 8. Juni 2001
Philipp sitzt auf der Vortreppe, streichelt eine aus der Nachbarschaft zugelaufene Katze, mit der er sich angefreundet hat, reibt mit dem Zeigefinger der Rechten an ihren Wangenknochen und kratzt sich selbst den Bauch. Er sieht den Autos, die vorne die Einfahrt passieren, beim Fahren zu, den Frauen mit Kind, die nicht einmal den Kopf nach ihm drehen, obwohl der Anblick, der sich ihnen bieten würde, nicht schlechter wäre als andere Anblicke. Aber nein. Die Frauen und Kinder interessieren sich nicht für ihn. Kein Hahn kräht. Kein Hund bellt. Die Tauben gurren. Der Kaffee wird kalt. Das Erkalten des Kaffees und das langsame Verbrennen der Sonne sind in etwa dasselbe. Aber er schwadroniert ja nur und verduselt und verschreibt seine Notizbücher mit nichts als Andeutungen und Widersprüchen.
Selbst seine Geschicklichkeit im Fliegenfangen macht ihn nicht mehr froh. Er gibt die Fliegen der Katze zu fressen.
– Was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach tun? fragt er die Katze. Sie miaut gnädig. Und mit einmal sieht auch Philipp sich an einem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr bestreiten will, daß er etwas falsch macht. Er weiß nicht was, es geht über seinen Horizont, aber zweifellos macht er Fehler.
Auch
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