Es geht uns gut: Roman
eine Spur Gereiztheit:
– Ich lese gerade, was du über deine Urgroßeltern und die Herkunft der Kanonenkugel schematisierst. Der Gedanke ist nicht gerade nett, ich weiß, aber du bist in etwa derselbe Stümper wie Franz. Du schreibst fleißig, und es scheint dir leicht von der Hand zu gehen, in Wahrheit aber steht dir jedes Wort im Weg, weil nicht wirklich etwas im Entstehen begriffen ist. Reines Zeitvertun. Weißt du, ich könnte es vielleicht akzeptieren, daß du durch unglückliche Umstände von den genealogischen Informationstransfers, wie sie zwischen Verwandten üblich oder wenigstens nicht unüblich sind, von früh auf abgeschnitten warst. Aber ich muß dir auch ins Gedächtnis rufen, daß zumindest dein Vater noch lebt.
– Nur hat der im Laufe des vergangenen Jahrhunderts das Reden verlernt.
– Und deshalb drehst du dir lieber deine eigenen Geschichten zusammen, ja? Aber selbst dafür könnte ich dich bewundern. Ich glaube, das könnte ich, wenn du nicht eitel wärst, also wirklich dran arbeiten würdest, ich meine, wenn du deine Familiengeschichte – wenn schon – wenigstens ohne Eitelkeit erfinden würdest. Nimm’s mir nicht krumm, aber dazu bist du als Nachkomme der hier beschriebenen Helden ganz offensichtlich außerstande.
– Na ja, ich habe gedacht –, murmelt Philipp schläfrig, betreten.
Er ahnt schon, daß Johanna wieder am Boden der Wirklichkeit angelangt ist mitsamt der Erkenntnis, daß er, Philipp Erlach, nicht der Mann ist, der Johanna Haug aus ihrer kaputten Ehe reißt.
– Du hast was gedacht? fragt sie.
Aber er bringt den Satz nicht zu Ende, und wenig später, als Johanna eine Anmerkung hinterherschickt, dringt das Gesagte schon nicht mehr recht zu ihm vor. Soll sie doch sagen, was sie will:
– Wenn es in dieser Tonart weitergeht, werde ich mich am Ende als Regenmacherin wiederfinden. Darauf läuft es doch hinaus. Das werde ich aber nicht hinnehmen, das kündige ich schon mal an.
Dienstag, 1. Mai 2001
Johanna will unbedingt am Aufmarsch teilnehmen und besteht darauf, daß sie beide die Räder nehmen, aus Protest gegen den Beschluß der Verkehrsbetriebe, neuerdings auch am 1. Mai normalen Betrieb zu fahren. Sie argumentiert, wenn schon kein Schwein mehr die Fasten einhalte, müsse man wenigstens bereit sein, sich an sozialistischen Feiertagen etwas Bewegung zu verschaffen. Diese Schlußfolgerung erscheint Philipp bei näherer Überlegung logisch, und er ist auch bereit, der Logik zu folgen, natürlich, mehr noch: Er flicht rotes Kreppapier spiralförmig in die Speichen der Räder, so tadellos, daß den Passanten vom Hinsehen schwindlig werden muß. Auf ihren Fahrrädern sind Johanna und Philipp ein schönes Paar, und während des Aufmarsches präsentiert Philipp seine Nelke im Knopfloch wie ein Operettenbolschewik seine Orden. Philipp steht an der Ringstraße zwischen Pensionisten, die Gewerkschaftsnadeln im Revers tragen, unter blühenden Kastanien, deren Blätter fettig glänzen. Die Parade und Johanna ziehen vorbei. Unterdessen frischt er jene Lieder auf, die ihm sein Vater, der Angeber, beigebracht hat, damit Philipp auf Schulausflügen etwas beizusteuern habe (so sein Vater): Avanti Popolo! Vorwärts und nicht vergessen!
Taterata! Tschingderassa! Schnädderädäng!
Am Abend auf dem Weg nach Hause, als Philipp und Johanna mit ihren hypnotisierenden Fahrrädern andere, gleichfalls heimkehrende Demonstranten überholen, die mit ihren nachschleifenden Fahnen aussehen wie Teile einer geschlagenen Armee, will Johanna wissen, ob Philipp bereit sei, eine gute Neuigkeit zu empfangen. Die Art der Einleitung und die Bezeichnung gute Neuigkeit machen ihn mißtrauisch, denn er weiß um die Relativität dessen, was in den Zeitungen als Glück bezeichnet wird. Trotzdem läßt er es zu, daß Johanna nach seiner Schulter greift, um sich während der Bekanntgabe der Neuigkeit von ihm ziehen zu lassen. Halb stolz, halb spöttisch teilt sie ihm mit, daß sie sich mit einem Bekannten aus dem Baugewerbe verständigt habe, und trotz der von ihr detailliert wiedergegebenen Schilderung der Zustände, die am Dachboden der Villa herrschen, würden sich morgen in aller Früh zwei Schwarzarbeiter auf dem Anwesen einfinden. Die beiden seien angewiesen, Philipp bei der Arbeit am Haus zur Seite zu stehen, ihm zur Hand zu gehen und gegebenenfalls unter die Arme zu greifen. Auf alle Fälle – so Johannas Meinung – werde die Ankunft der Männer ihn (ja, Philipp, dich) für ein paar Tage
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