Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
Vom Netzwerk:
Haftladungen hinterher. Über die miteinander verbundenen Keller der Nachbarhäuser dringt der kleine Trupp bis auf die Höhe vor, wo die Bolschewisten in Deckung gegangen sind. Die Menschen in den Kellern scheinen sich an den waffenschleppenden Hitlerjungen nicht zu stören. Auch gegen das jetzt von draußen ertönende Tack, Tack, Tack der Maschinenpistole (oder der Ratsche) sind die auf Bänken und Koffern sitzenden Hausbewohner mehrheitlich gleichgültig. Kein Wort fällt, kein Gruß. Krumm sitzen sie, teilnahmslos, dick von mehreren Schichten Kleider. Peter kommt in den Sinn, daß bereits vor zwei Tagen, als sie unter Waffen gestellt wurden, zu seiner ehrlichen Enttäuschung die blumenstreuenden Frauen und Mädchen fehlten.
    Beim Hochsteigen aus dem dritten Keller ist von Maschinengewehrfeuer nichts mehr zu hören. Hinter dem Fähnleinführer drückt sich Peter durch den Hausgang Richtung Straße, er tritt möglichst vorsichtig auf, um mit den schiefen Holzsohlen seiner Goiserer nicht allzuviel Lärm zu machen. Doch die Bolschewisten haben sich zurückgezogen. Rotarmist und Kinderwagen liegen nicht mehr an der durch eine Blutlache markierten Stelle, und auch die Brotziegel haben die Bolschewisten mitgenommen, was Peter vor allem anderen bedauert, denn die Verpflegungsration, die er am Vortag gefaßt hat, war dürftig, und er hat den Fehler begangen, alles schon am ersten Tag aufzuessen. Dabei hatte man ihn darauf hingewiesen, daß er mit dem Erhaltenen für mindestens zwei Tage sein Auslangen finden müsse.
    (Er hätte sich die 10-Punkte-Listen vergegenwärtigen sollen, die ihm seine vorbildlichen Schwestern ins HJ-Lager mitgaben: Daß er nicht in der ersten Stunde allen Reiseproviant aufessen und immer zeitig aufstehen solle, sonst müsse er ewig auf ein freies Klo warten; daß er sich warm anziehen und sich die Nase putzen und bloß nichts anstellen solle, weil Mama krank sei und man auch an Papa schon sehen könne, was Nerven sind.)
    Peter drückt sich an das nach innen geklappte Haustor, äugt um die Ecke und sieht, wie der sowjetische Offizier rückwärts gehend seinen Infanteristen Deckung gibt. Die Soldaten manövrieren den Kinderwagen mit dem quer darüberliegenden Körper des Getroffenen in eine Seitengasse, dort verschwindet wenig später auch der Offizier. Von der Ruine aus wird dem Offizier, als er schon nicht mehr zu sehen ist, hinterhergeschossen. Der Nachhall des Schusses läßt die Straße noch leerer wirken.
    Die Buben richten den Hausgang als zweite Beobachtungsstelle ein. Unablässig die Umgebung sondierend, auf Geräusche lauschend, die zu ihnen dringen, warten sie zehn Minuten, ohne daß etwas Nennenswertes vorfällt. Sie haben Angst, aber gleichzeitig sind sie in angeregter Stimmung, die teils mit dem Bewußtsein der Lebensgefahr zu tun hat, teils mit der Überzeugung, daß ihnen ihre Angst nicht anzumerken ist oder, wenn doch, sie wenigstens nicht feige sein werden. Wenn die Buben schon über manches streiten gehört haben, dann bestimmt nicht über Feigheit, die das allerversöhnlichste Thema ist, das sie nennen können, Einigkeit in allen Lagern, das Letzte vom Letzten. Trotzig, mit einem großmäuligen Gestus der Überheblichkeit, unterhalten sie sich darüber, was an ihren Uniformen noch zu verbessern wäre, wo der Schnitt nicht ganz paßt und mit welchen Tricks man die blauen Hosenbeine aufbügeln kann, daß sie einen Schlag bekommen wie die Beinkleider der Matrosen. Sie reden über den Buben, der geschossen hat und der am Vortag in so makellos adjustierter Kleidung auftauchte, als wäre er abkommandiert, dem Führer zum Geburtstag zu gratulieren. Sie beneiden ihn um seine Koppel, die aus frisch gefettetem Leder und nicht, wie ihre, aus Pappmaché gefertigt ist. Und wie schon am Vortag, als sie im Bellaria-Kino übernachteten, kommt die Sprache auf das unklare Alter des Kleinen. Der Fähnleinführer lobt sich den Opfermut und Siegeswillen , er nennt den Buben ein Vorbild , dulce et decorum est pro patria mori . Er muß seinen kleinen Vortrag aber abbrechen, kaum daß dieser begonnen hat, denn stadtseitig, die Ruine passierend, kommt ein Zivilist die Straße herunter.
    Der Mann, ein älterer Herr, ist in Unterhosen, seine schwarzen, verwaschenen Drillichhosen hat er dabei, nur sind sie unten verknotet und offenbar mit Mehl gefüllt. Diesen aufgeblasenen, aufgeblähten, wasserleichenähnlichen Torso zerrt der Mann schnaufend und fluchend, aber mit dem Eifer des Glücklichen über den

Weitere Kostenlose Bücher