Es geht uns gut: Roman
davor bewahren, sich Lebensläufe für Kanonenkugeln auszudenken.
Statt einer entschiedenen Zurechtweisung, die auf diese Provokation, wie Philipp meint, eine angemessene Reaktion wäre, begnügt er sich mit einem Stöhnen. Während er heftig in die Pedale tritt, verstärkt Johanna den Griff an seiner Schulter. Erst nach mehreren hundert Metern, zwischen Meidling und Schönbrunn, als ihm die Luft auszugehen droht, entschließt er sich zu protestieren:
– Was bin ich für ein König, daß ich gleich zwei Helden zum Ausmisten brauche! Einen nach dem andern laß ich köpfen! Genau! Ich Saukerl von einem König!
Weißer Sonntag, 8. April 1945
Wien ist Frontstadt. Auf klappernden Holzsohlen, eine Panzerfaust über der Schulter, rennt der fünfzehnjährige Peter Erlach über die Straße und verschwindet in einer bizarr aufragenden Eckhaus-Ruine, in der sein Fähnleinführer und vier weitere Hitlerjungen Position bezogen haben. Teils über einen gezackten Mauerkamm hinweg, teils durch eine klaffende Fensteröffnung des Parterres sehen die Buben ihre ersten Bolschewisten, einen Spähtrupp, der von Süden in die Gasse biegt. An der Spitze ein schnauzbärtiger Offizier mit vorgehaltener Maschinenpistole, dahinter ein Soldat, der einen großrädrigen Kinderwagen vor sich herschiebt. Weitere Fußsoldaten, die schußbereiten Gewehre unter den Ellbogen, folgen in losem Abstand. Die meisten dieser Gestalten sind stämmig, die Gesichter schal, abgekämpft und übernächtigt, die Uniformen verdreckt. Allen pludern die Hosen aus den kniehohen Stiefeln, manche haben den offenen Mantel im Wind, ganz so, wie es in einem der Jahrbücher der Hitlerjugend beschrieben ist, in der Hoffnung auf einen Mantelschuß . Kein einziger Stahlhelm ist auszumachen, nur lauter abgeschabte, zerrissene Pelzmützen, deren Ohrenklappen seitwärts abstehen wie die Flügel ausgestopfter Vögel. Zwei der Männer haben Tulpen an der Mütze, die sie vermutlich im schon eroberten Schloßpark geschnitten haben. Etlichen klebt eine zerkaute Machorka im Mundwinkel. Sieht ganz gut aus, denkt Peter, fehlt nur noch das Pferdchen mit mistverklebtem Fell.
– Es geht los, flüstert der Fähnleinführer.
Einer der Buben, ein Freiwilliger, der maximal vierzehn ist, aber darauf beharrt, ebenfalls fünfzehn zu sein, kriecht auf dem Bauch um einen Mauerstorzen herum bis zur ehemaligen Kante zwischen Haus und Gehsteig. Mit seinem französischen Beutekarabiner legt er auf die langsam näher kommenden Männer an. Ein scharfer Knall ertönt, gleichzeitig fällt der Rotarmist, der den Kinderwagen geschoben hat, mit einem Schrei zu Boden. Der Kinderwagen kippt um und verschüttet seinen Inhalt, Brotziegel und Munition, über den Getroffenen. Ohne das Feuer zu erwidern, flüchten die anderen Bolschewisten in offene Haustore, das hat auch mit dem lauten Tackern zu tun, das unmittelbar nach dem Schuß einsetzt. Einer der Hitlerjungen dreht die Kurbel einer aus der Augustinerkirche entwendeten Osterratsche, deren Zinken mit Eisen beschlagen sind, damit das so erzeugte Geräusch nach Maschinengewehr klingt. Tack-tack-tack-tack-tack. Für vier oder fünf Sekunden. Länger hält der Täuschungseffekt nicht an.
Während der auf der Straße liegende Bolschewist Schrei auf Schrei ausstößt, robbt der Schütze zurück zu den anderen Buben. Er schlägt mit dem kantigen Kolbenblech seines Karabiners eine Kerbe in den Verputz der Mauer, wo eine Nachricht für ehemalige Hausbewohner aufgeschrieben steht. Er reibt sich die Schulter, an der das Gewehr angelegt war, und sagt:
– Volltreffer.
Er schnaubt zufrieden durch die verkrusteten Nasenlöcher, ehe er seine Waffe wieder zu laden beginnt. Die Schmerzenslaute des Getroffenen gehen in kaum noch vernehmbares Stöhnen über.
– Hab ich gesagt, du sollst schießen? schnauzt der Fähnleinführer.
Aber es ist dem Fähnleinführer anzumerken, daß er nicht unzufrieden ist, endlich Gefechtsberührung zu bekommen. Er hat mehrfach anklingen lassen, daß er das EK I zu erwirtschaften gedenkt, seiner Meinung nach ein lösbares Unterfangen, denn da der Volkssturm kein regulärer Kampfverband im eigentlichen Sinn ist, macht er sich Hoffnungen, daß auch kleinere Erfolge entsprechend gewürdigt werden.
Um an der Klinge zu bleiben, wie er es ausdrückt, springen der Fähnleinführer und zwei weitere Buben, darunter Peter, durch ein Loch in den Keller des zerbombten Hauses. Die zurückbleibenden Buben reichen drei Panzerfäuste und zwei
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