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Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft

Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft

Titel: Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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schmunzelnd zu Hause berichtet.
    »Kein Wunder«, sagte Sigi, »wenn du den ganzen Stoff jeden Tag zweimal durchnimmst!«
    Er war froh, dass Karls Hilfe nicht nur eine Last bedeutete, sondern auch dem Freund selber nützte.
    Ohne dass Sigi darauf geachtet hatte, war er in die Gegend hinter dem Bahnhof geraten. Der Abendzug schnaufte gerade heran. Schrankenwärter Brambusch kurbelte die Schlagbäume nieder und wieder hoch.
    »Wo strolchst du denn herum, Junge?«, fragte Brambusch. Doch ohne eine Antwort abzuwarten, humpelte er in sein Bahnwärterhäuschen zurück. Den einen Arm schlug er gegen die Brust.
    Ja, es ist kalt heute, dachte Sigi.
    Er wollte nach Hause. Niemand schien aus dem Zuge ausgestiegen zu sein. Oder doch? Dort schlurfte ein Mann auf die Stadt zu. Er trug einen Pappkarton.
    »Ich schleiche mich nah heran. Mal sehen, wann er mich bemerkt.«
    Sigi huschte mit schnellen Schritten hinter der Gestalt her. Irgendwie kam der Schatten im Schnee ihm bekannt vor. Plötzlich, er war vielleicht bis auf zwanzig Schritte herangekommen, zuckte er zusammen und blieb stehen. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, damit er schärfer sehen konnte.
    »Du spinnst, Sigismund Waldhoff«, sagte er zu sich selber. Aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben.
    Er ging schneller. Er wollte es genau wissen. Der Mann hörte die Schritte hinter sich und schaute sich ängstlich um. »Vater«, schrie Sigi. »Vater!« Er flog auf ihn zu. Der Mann ließ seinen Pappkarton in den Schnee fallen.
    »Und Gänsebraten gibt es«, stammelte der Junge.

22
    Frau Waldhoff musste sich an der Stuhllehne festklammern, so fuhr es ihr in die Glieder, als sie ihren Mann plötzlich in der Tür stehen sah. Es gab viele Fragen. Das Verfahren sei aufgehoben, hatte man Waldhoff kurz beschieden. Zu einer Verhandlung werde es nicht kommen, weil der Staatsanwalt nichts Rechtes beweisen könne. Die Zeugenaussagen seien eben doch zu verwaschen und unzureichend, um eine Anklage auf Mord zu rechtfertigen.
    Frau Waldhoff hingegen berichtete von den Freundlichkeiten der Nachbarn. Ihr fiel die Gans ein. Geschwind rückte sie den Bräter vom Rand der Herdplatte wieder auf die Kochringe.
    »Du sollst sehen, Bernhard, es wird alles wieder gut.«
    »Alles wohl nicht«, sagte Ruth bitter. Waldhoff strich ihr über das Haar. »Gewogen und zu leicht befunden«, murmelte er.
    Spät in der Nacht hielten sie ein richtiges Festmahl. Das zarte Fleisch ließ sich mit der Zunge zerdrücken. Aus irgendeinem Winkel hatte Mutter eine Flasche Rotwein geholt. Der funkelte in den Gläsern. Auch Sigi bekam einen Schluck.
    Erst als die Glocken zur Christmette läuteten, verlöschten bei Waldhoffs die Lampen.
    Die Weihnachtstage vergingen, das neue Jahr wurde festlich begrüßt. Viele Hoffnungen verknüpften sich mit ihm. Doch die Hoffnung der Waldhoffs, dass vielleicht die schlimmsten Monate endgültig vorüber seien, die konnte es nicht erfüllen. Solange Waldhoff im Gefängnis gewesen war, solange Gericht und Urteil bevorzustehen schienen, brachte keine Zeitung mehr das Thema Kindesmord auf die Titelseite. Selbst an den Stammtischen im Städtchen und vor den Ladentheken redeten die Bürger inzwischen über andere Dinge, über andere Menschen.
    Aber Waldhoff war frei, frei, ohne Strafe, ja ohne Verhandlung. Mehlbaum geiferte, er habe es ja immer schon gesagt, das Judentum habe einen langen Arm. Niedergeschlagen worden sei das Verfahren, vertuscht werden solle die Tat, man wolle Gras darüber wachsen lassen. Aber solange er seinen Mund aufmachen könne, so lange werde es keine Ruhe geben, bis dem Täter Waldhoff die Schlinge über den Kopf gezogen werde.
    Mehlbaum war zu wenig angesehen in der Stadt, als dass sein Hass großen Einfluss gehabt hätte. Von Ost bis West und von Nord bis Süd jedoch war mit einem Male die »Mordaffäre« wieder für dicke Balkenüberschriften gut. In Leipzig schrieb man von »peinlichem Aufsehen«; in Berlin gab es Protestversammlungen, obwohl die Hauptstadt an die sechshundert Kilometer weit entfernt war; in Frankfurt wusste man davon, dass eine weltweite Sammlung der Juden der Familie Waldhoff eine sorgenlose Zukunft bereiten sollte. Der Innenminister wurde angegriffen; zwei Abgeordnete der Kammer drohten mit einer Beschwerde.
    Eine Weile widerstanden die Nachbarn der Welle von Drohungen, Beleidigungen und Schmähungen. Kurze Zeit schien es so, als siege in ihnen die Einsicht, dass sie ja Waldhoff viel besser kannten als alle die, die mit

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