Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
Mutter, euer Sigi, der dürfte sich das schönste Stück aussuchen.«
Schon war er wieder zur Tür hinaus. Mutter hatte nicht einmal Gelegenheit, ihm ein Plätzchen zuzustecken.
»Was mag wohl darin sein?« Ruth betastete das Packpapier.
»Rufe Sigi. Er soll dabei sein, wenn es ausgepackt wird. Wahrscheinlich geht es an seine Adresse; schließlich hat er den Hein aus dem Eis gezogen.«
Sigi, der der Eulenfigur den letzten Schliff gegeben hatte, kam neugierig dazu. »Ein Paket von Bökeloh?«
Mutter legte es auf den Küchentisch. Sie hatte keine Ruhe, die Kordel aufzuschnüren, und schnitt sie mit der Schere durch.
Aus den Papierhüllen schälte sich eine schwere Gans, gerupft, ausgenommen, Fett und Innereien in der Leibeshöhle verborgen.
»Ein Festbraten«, jubelte Ruth. »Ein richtiger Festbraten!«
Mutter schnitt ein Stückchen Lunge heraus und hielt es prüfend ins Licht. »Kein Blut«, murmelte sie. »Das wundert mich. Sie haben sie von einem Juden schlachten lassen. Die Gans ist nach unserem Gesetz geschlachtet worden.«
Bald durchzog ein herrlicher Duft von Gänsebraten das ganze Haus. Mutter hatte das Fett ausgelassen und in ein Bunzlauer Töpfchen geschüttet. Sigi wusste, wozu sie es brauchte. Bei Erkältungen und Husten machte sie ihm mit diesem Fett einen Wickel um Brust und Rücken. Sigi konnte zwar den ranzigen Geruch nicht ausstehen, aber die Erkältung heilte schnell davon.
Allmählich wurde es still auf der Straße. Dem Sturm war ruhiges, frostklares Winterwetter gefolgt. Sigi erhielt von Mutter die Erlaubnis noch ein wenig durch die Stadt zu streifen. Er wollte vor allem bei Ulpius vorbeilaufen und für Karl das Päckchen abgeben. Die Eule war ein kleines Kunstwerk geworden. Jede Feder hatte er sorgfältig herausgearbeitet, und die Augen wirkten raublustig und lebendig.
Frau Ulpius öffnete auf sein Klopfen die Tür. Sigi war froh, dass Karl nicht selber kam.
»Für Karl«, sagte er.
»Komm doch einen Sprung herein. Wir schmücken gerade den Weihnachtsbaum.«
»Nein, Frau Ulpius. Mutter hat es nicht erlaubt.«
»Na, dann auf morgen. Du kommst doch? Wer weiß, vielleicht bringt dir das Christkind bei uns auch etwas?«
Sigi nickte und lief davon. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen. Einmal zog er seine Handschuhe aus und versuchte, einen Schneeball zu pressen. Es gelang nicht. Der Schnee zerstäubte gleich wieder. Mütze und Schal hielten warm. Trotz der Kälte fror Sigi nicht. Er lief zum Stadttor hinaus. Im Mondlicht glänzte der Schnee und funkelte. Unberührt lag er auf Wiesen und Feldern.
War er nur wenigen Menschen in der Stadt begegnet, hier vor den Mauern regte sich gar nichts. Nah standen die Sterne. Gleich fand er den Großen Wagen. Er verlängerte die Hinterachse fünfmal und fand den Nordstern, genau wie Lehrer Coudenhoven es beschrieben hatte.
Schon länger als ein Vierteljahr war er nun nicht mehr in der Schule gewesen. Zuerst hatte er gemeint, diese ewigen Ferien seien ein Zipfel des Paradieses. Doch je länger sie dauerten, desto häufiger ertappte er sich bei dem Gedanken »Was mögen sie jetzt in der Schule machen?«. – »Heute feiern sie Erntedank.« – »Am 10. Oktober hat Coudi Namenstag. Ob sie wohl daran denken?« Eines Tages war es so weit. Er war verlegen bei Karl Ulpius erschienen und hatte gefragt: »Hör mal, du könntest mir eigentlich jeden Tag kurz berichten, was ihr in der Schule erlebt habt.«
»Ach«, hatte Karl zur Antwort gegeben, »es geschieht rein gar nichts mehr. Schon über vierzehn Tage hat keiner einen Streich ausgeheckt. Coudi hat oft trüben Sinn. Es geschieht rein gar nichts mehr.«
Er hatte es zuerst gar nicht begreifen können, dass Sigi nicht auf Streiche aus war, sondern dass er Hunger nach Lernen und Schulaufgaben verspürte.
»Es geht ihm wie dem Mann, der zeit seines Lebens stets Wasser im Überfluss hat. Plötzlich gerät er in die Sahara. Da erst merkt er, wie herrlich ein Becher Wasser sein kann«, hatte sein Vater ihm erklärt.
Seitdem half Karl dem Freund, wann er nur konnte. Es machte ihm sogar Spaß, Sigi die Hausaufgaben nachzusehen, natürlich immer stets einen Tag später. Ohne dass er es merkte, festigte sich Karls Plan, Lehrer zu werden, immer mehr. Vor allem aber staunte Lehrer Coudenhoven.
»Dein Zeugnis vor Weihnachten wird erheblich besser«, hatte er zu Karl gesagt. Der Klasse aber schmetterte er entgegen: »An dem Ulpius seht ihr es ja, ihr Dummköpfe. Es ist nie zu spät zum Lernen.«
Karl hatte es
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