Es geschah in einer Regennacht
Ablage für allen möglichen Krempel, wenn man einmal
von drei kleinen Kakteen absah.
Dieses riesige Fenster war
ziemlich sinnlos, wie Tim fand, denn die Aussicht ging auf den zweiten
Wohnturm, den linken, der höchstens fünfzehn Meter entfernt war. Die Etagen
lagen sich in Augenhöhe gegenüber. Man konnte sich von Haus zu Haus mit Blicken
belästigen. Aber Dilch schien das wenig zu stören, denn er besaß weder Gardinen
noch Vorhänge. Zwar gab es weiße Jalousien, doch die waren hochgezogen.
Tim, der jetzt brezelbreit im
Raum stand, war für einen Moment überrascht und fühlte sich wie auf dem
Präsentierteller. Hinter dem Fenster der gegenüberliegenden Wohnung hing eine
helle Gardine. Er konnte nicht hineinsehen in diese Behausung. Doch wenn sich
dort jemand aufhielt, dann — dachte er — bin ich entdeckt.
»Man kann uns sehen«, sagte
Karl.
»Schiet!« Tim zuckte die
Achseln. »Daran lässt sich nichts ändern. Gehen wir davon aus, dass sich in
einer Millionenstadt niemand um den Nachbarn kümmert. Schon gar nicht um den
vom Nachbarhaus. Vielleicht kennt man sich vom Zuwinken, mehr aber nicht.«
»Da hast du Recht.«
Beide irrten sich gründlich.
»Sollen wir die Rollläden
runterlassen?«
Tim schüttelte den Kopf.
»Wir suchen also nach Schuhen.
Denn der ›Tanzende Tiger‹ ist offensichtlich nicht hier. Dort neben dem
Kleiderschrank — das sieht aus wie ein Schuhschrank.«
Sie sahen nach. Dilch besaß
achtzehn Paar Schuhe, alle vom Feinsten, überwiegend italienische Treter.
Sneaker waren nicht dabei, doch in die unteren Schubladen waren Trainingsschuhe
hineingestopft. Für Jogging, für Tennis, für Cross-Training. Aber keine
Sneakers.
Tim suchte dann im dreiteiligen
Kleiderschrank. Dilch trug nur Edelklamotten. In die meisten Jacketts war sein
Name eingestickt. Er besaß auch Sportkleidung, viel Wäsche und drei
Tennisschläger.
Derweil befasste sich Karl mit
dem Bücherregal an der fensterlosen Nordwand.
»Keine Fiction-Literatur, also
keine Romane, aber massenhaft Fachliteratur über Kunst, vor allem über Malerei.
Das sind an die einhundert Bildbände. Und Kataloge von internationalen
Versteigerungen.«
»Er muss ja schließlich wissen,
was er klaut.«
Tim trat zu dem ungemachten
Bett, das nach einem herben Rasierwasser roch. Auf dem Nachttisch stand ein
großer, metallischer Bilderrahmen mit mehreren Fotos.
Zwei waren die Porträts einer
Frau. Sie lächelte in die Kamera und zeigte dabei strahlende Zähne mit einem
Streifen vom oberen Zahnfleisch. Ansonsten war sie recht hübsch mit ihrem
langen rotblonden Haar. Tim schätzte sie auf ungefähr dreißig.
Zwei weitere Fotos zeigten
ebendiese Frau und einen stabilen Typ von Mitte dreißig, der ihr einmal von
rechts und einmal von links den Arm um die Schulter legte. Er grinste. Sein
eckiges Gesicht war leicht konkav geformt (nach innen gewölbt). Das
braune Haar hing ihm lang in den Nacken und bog sich dort zu einer Stenzrolle.
Der Typ — garantiert Markus Dilch — wirkte auf Tim wie ein
Möchtegern-Kultivierter, der sich aber besser auskennt bei Handgreiflichkeiten.
Tim machte Karl auf die Fotos
aufmerksam.
»Ist einen Kopf größer als die
Tussi«, nickte Computer-Karl. »Absolut XL. Dem gehören die Jacken.«
»Dass wir um Himmels willen
nicht vergessen, die wieder mitzunehmen.«
Beide lachten. Dann suchten sie
nach eventuellen Verstecken für den ›Tanzende Tiger« Doch ohne Erfolg.
Tim behielt auch die
gegenüberliegende Wohnung im Auge. Einmal war ihm, als bewege sich dort die
Gardine. Er starrte hinüber, konnte aber niemanden entdecken. Doch ein
Unbehagen breitete seine Drachenflügel im Magen aus.
Dann fiel Tim noch was ein, und
er zog eins der Paarfotos aus dem Rahmen — vorsichtig, ohne die Anordnung der
Bilder zu verändern. Und richtig! Auf der Rückseite war mit steiler
Tintenschrift ein Vermerk: Fleurie mit mir am ersten Weihnachtstag.
Tim vermutete, dass es sich um
das jüngste Weihnachtsfest handelte, obwohl auf den Paarfotos der Hintergrund
völlig neutral war.
Fünf Minuten später verließen
die Jungen das Apartment. Karl schloss sorgfältig hinter ihnen ab.
11. Fleurie
von gegenüber
Fleurie Schuck hatte lange
geschlafen an diesem Samstag, lief dann im Pyjama herum und bereitete sich ein
Beauty-Frühstück mit Orangensaft, Joghurt, Fruchtsalat, Toast, wenig Butter,
einem Eiweiß-Drink, etwas Honig und zwei weich gekochten Eiern. In der kleinen
Küche lud sie alles auf ein leichtes Tablett und
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