Es gibt kein nächstes Mal
Komplimente zu machen, da keine Berechnung
dahintersteckte.
»Ich glaube nicht, daß ich an einem einzigen Tag
jemals so viel gegessen habe«, sagte Gemma, als sie die Speisekarte wieder
zusammenfaltete, »aber ich glaube, ich esse trotzdem ein Steak«, schloß sie
kichernd.
Sie hatten auf dem Weg einen Abstecher in eine
Bar gemacht, deren Vorhänge sich vom Gauloiserauch von Jahren ocker gefärbt
hatten, um dort einen Aperitif zu trinken. Dann hatten sie einem zweiten und
einem dritten Getränk nicht widerstehen können. Und jetzt, im Restaurant,
bestellte Ralph Wein.
Seit ihrer Abreise aus New York hatte sie sich
in der Gesellschaft eines Menschen nicht mehr so wohl gefühlt wie jetzt. Sie
merkte deutlich, daß Ralph sie mochte, sie wirklich mochte, und sie mochte ihn
auch wirklich. Zwar hatte ihr die Enttäuschung darüber, daß es sich bei ihm
nicht um einen potentiellen Liebhaber handelte, im ersten Moment einen Stich
versetzt, doch diese Enttäuschung hatte sich gelegt, als ihr zu ihrer großen
Freude aufgegangen war, daß sie dabei war, eine neue Freundschaft zu schließen.
Die erste Phase einer Freundschaft — Gespräche, wichtige Dinge unter demselben
Gesichtspunkt betrachten, Gelächter — zählte zu den schönsten Dingen im Leben.
Die erste Phase einer Beziehung — darauf warten, daß das Telefon läutet, sich
zu entscheiden, wie eifrig und wie distanziert man sich gibt, das Unterdrücken
von Optimismus und die Erwartung eines Fehlschlags — war ihrer Erfahrung nach
eher qualvoll.
Nachdem er seine Familie in kurzen Skizzen klar
umrissen hatte, wollte er jetzt etwas über ihre Familie erfahren.
»Tja, ich schätze, im Grunde genommen bin ich
auch ziemlich reich«, sagte sie und griff damit sein früheres Geständnis wieder
auf, »aber nur, weil mein Vater an Krebs gestorben ist, als ich einundzwanzig
war, und meine Mutter einen Monat später Selbstmord begangen hat.«
»Ah, Gemma, es tut mir ja so leid für dich...«
In seinem Gesicht drückte sich echter Schmerz aus.
»Danke.« Sie wußte nie, was sie darauf sagen
sollte. Gelegentlich war es vorgekommen, daß sie gesagt hatte: »Schon gut«, da
sie wußte, daß diese Information den Empfänger mehr schockierte als sie. Es gab
nicht viele Menschen, denen sie das erzählte.
»Ich habe mich nicht gut mit meiner Mutter
verstanden«, fuhr sie fort, da sie das Gefühl hatte, ihm alles sagen zu können,
»aber das hat es auch nicht gerade leichter gemacht. Manchmal glaube ich,
dadurch wird es sogar noch schlimmer. Ich meine, ich habe liebevolle
Erinnerungen an meinen Vater, und es macht mich traurig, aber jedesmal, wenn
ich an meine Mutter denke, werde ich wütend, und dann regt sich mein
Schuldbewußtsein, weil ich wütend bin... klingt das nicht gräßlich?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich bin in die Staaten gegangen und habe
versucht, mir dort ein neues Leben aufzubauen, und das ist mir gewissermaßen
auch gelungen. Aber dann ist dort auch alles schiefgegangen, und da habe ich
mir gesagt, ich könnte eigentlich wieder nach Hause gehen. Ich dachte, ich sei
über alles hinweggekommen und könnte hier einen neuen Anfang machen. Verstehst
du, ich dachte, ich sei gut darin, einen neuen Anfang zu machen. Aber jetzt,
nachdem ich zurückgekommen bin, stelle ich fest, daß all die Dinge, die ich
hinter mir zurückgelassen habe, nach zehn Jahren alle noch da sind und daß ich
mich damit auseinandersetzen muß, und diesmal weiß ich, daß es kein Entkommen
gibt... und manchmal«, sagte sie und spürte, wie eine Träne über ihr Gesicht
lief, »fühle ich mich so einsam... es tut mir leid... ich bin mir selbst
gegenüber zu schwach, und das ist genau das, was ich an Estella am meisten
gehaßt habe.«
»Estella war deine Mutter?«
»Ja.«
»Ein toller Name.«
»Wie so vieles an ihr war auch er erfunden«,
sagte Gemma unbarmherzig. »Ihr richtiger Name war Stella, und sie ist in einer Imbißbude
aufgewachsen, in einem Fish-and-Chips-Shop, aber wenn du ihr begegnet wärest,
dann hättest du geglaubt, sie sei in einem Palast groß geworden.«
»Ihre Mutter war eine indische Königin, und ihr
Vater war der Kaiser von China?«
»Ja. Woher stammt das?« Gemma kannte das Zitat,
wußte es jedoch im Moment nicht unterzubringen.
»Von Heathcliff in Sturmhöhe .«
»Ja, natürlich«, erinnerte sich Gemma wieder und
überlegte sich, wie passend dieses Zitat doch war. »Ja, Estella hätte sich
liebend gern mit Heathcliff vergleichen lassen — sie war ein
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