Es gibt kein nächstes Mal
Mittagessenszeit? Ja,
das würde ich schon meinen«, erwiderte Sally.
»Rufen Sie einfach dort an und fragen Sie, ob
eine Reservierung für ein Uhr auf den Namen Rush vorliegt.«
»Okay.« Sally wirkte verblüfft.
Kurz darauf betrat sie Gemmas Büro.
»Es hat keine Bestellung Vorgelegen, und daher
habe ich einen Tisch für zwei Personen gebucht. Sie hatten gerade für ein Uhr
fünfzehn eine Absage erhalten. Ist das in Ordnung?«
»Ja, wunderbar«, sagte Gemma. »Wann ist mein
Treffen mit dem Boß angesetzt?«
»Um vier.«
»Dann sollte ich es ja mühelos schaffen,
rechtzeitig zurück zu sein.«
Daisy eilte durch die Menschenmenge, die sich
auf dem Platz tummelte. Zwei junge Frauen sangen Arien zur Begleitung von Orchestermusik,
die aus einem Kassettenrecorder mit blechernem Klang dröhnte. Daisy blieb
stehen, um zuzusehen, als eine von ihnen sich in die Rolle der Carmen warf. Was
die gesamte Gestik und die lasziven Blicke anging, machte sie ihre Sache sehr
gut, doch ihre Stimme klang ganz so, als eignete sie sich besser für die
Laienaufführung eines Musicals von Gilbert und Sullivan. Aber immerhin, dachte
Daisy. Es mußte schwierig sein, gegen ein Karussell mit seiner Spieldosenmusik
anzukommen, eine ständige Wiederholung von Melodien aus The Sound of Music. Neben dem Kasperletheater jonglierten zwei Männer, die als Clowns verkleidet
waren, mit Staffelhölzern, und neben ihnen setzte ein ernst aussehender Pierrot
das Klischee dessen, der in einem Glaskasten sitzt, in eine Pantomime um. Daisy
war der Auffassung, sämtliche Pantomimekünstler sollten gewaltsam in Kisten
gesperrt werden, denn dort schienen sie sich ohnehin am wohlsten zu fühlen,
vorzugsweise jedoch in Kisten mit undurchsichtigen Wänden, damit niemand ihnen
Zusehen mußte. Was hatten all diese Menschen bloß getan, ehe Stadträte
beschlossen hatten, die Fußgängerzonen mit den großen Kaufhäusern geschmacklos
aufzumotzen und in Einkaufszentren zu verwandeln, fragte sich Daisy. Die Leute
redeten ständig von der Laura-Ashleyfizierung der Innenstädte, aber wer
beschwerte sich jemals über die Auswüchse des Straßentheaters? Obwohl es im
allgemeinen an Qualität mangelte und meistens regelrecht langweilig war, war es
eine nahezu heilige Kuh der liberalen Stände. Daisy fragte sich, ob sich daraus
ein Artikel machen ließe.
Gemma lief durch den Long Acre und fragte sich,
warum sämtliche Restaurants und die meisten Geschäfte rot-weiß-blaue Flaggen in
den Fenstern hatten, und dann dämmerte ihr, daß England kurz davorstand, in eine
Raserei des Fahnenschwenkens zu versinken, denn in wenigen Wochen nahte der
fünfzigste Jahrestag des Sieges in Europa. Im Gegensatz zu den meisten
Menschen, mit denen sie gesprochen hatte, sah sie den Feierlichkeiten recht
gespannt entgegen. Der Tag des Sieges war in der Geschichte ihrer Familie ein
ganz besonderer Tag gewesen. Es war der Tag, an dem ihr Onkel Ken ihrer Tante
Shirley einen Heiratsantrag gemacht hatte. Gemma wußte nicht, wie oft sie
Shirley dazu gebracht hatte, ihr diese Geschichte zu erzählen, doch sie
erinnerte sich noch Wort für Wort daran.
Sie hatten alle auf dem Piccadilly Circus
getanzt. Estella war aus irgendwelchen Gründen dabeigewesen, obwohl sie noch
ein Kind war. Sie hatte ihre Mutter einmal danach gefragt.
»Ja, wir haben getanzt«, hatte Estella gesagt
und auf die Felder hinausgeschaut, von denen Whitton House umgeben war. »Ich
habe damals geglaubt, in London würden die Leute immer tanzen. Als ich endlich
nach London gekommen bin, habe ich festgestellt, daß das nicht wahr ist. Aber
man hatte trotzdem seinen Spaß«, fügte sie wehmütig hinzu.
Manchmal versuchte Estella den Spaß, den sie in
London gehabt hatten, in ihrem Haus Wiederaufleben zu lassen. Dann lud sie
Leute, die sie kannte, für das Wochenende ein und produzierte an heißen
Sommernachmittagen riesige Schalen Punsch. Die Party begann immer sehr laut.
Zahlreiche schicke Frauen kreischten einander an, und Männer in zerknitterten
weißen Jacketts versuchten, auf dem holprigen Rasen Krocket zu spielen, doch
gegen Ende des Nachmittags schliefen sie alle in den Schlafzimmern und auf den
Sofas im ganzen Haus, und dann schlich sich Gemma nach unten, um
übriggebliebene Cocktailwürstchen und kleine Ecken zerlaufenden Brie zu rauben.
Sie erinnerte sich noch daran, daß einmal eine sehr betrunkene Schauspielerin
die lange graue Aschesäule ihrer Zigarette lässig in ihr Haar geschnippt hatte,
das sofort zu
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