Es gibt kein nächstes Mal
daß die Leute dahinterkommen werden und daß ich überhaupt nichts weiß
und daß alles, was ich denke, absolut banal und dumm ist... Habe ich mich
einigermaßen verständlich ausgedrückt?«
»In den Staaten wird es das
>Hochstaplersyndrom< genannt«, sagte Gemma. »Ich glaube, jeder fühlt es.
Vor allem Frauen. Meinst du nicht auch?«
»Geht es dir jemals so?« fragte Daisy
ungläubig.
Gemma begriff plötzlich, daß es sich bei der
Veränderung in Daisys Gesicht, die sie nicht hatte einordnen können, um eine Art
von Einsamkeit handelte. Im Gegensatz zu früher, als Daisy offen in die Welt
hinausgeschaut hatte, blickte jetzt ein Teil von ihr nach innen, und zwar mit
kritischem Blick.
»Natürlich geht es mir so. In der letzten Zeit
vielleicht nicht mehr ganz so oft. Vielleicht legt es sich mit dem Älterwerden,
obgleich ich das Gefühl habe, daß ich Gewaltiges leisten muß, um mich in meinem
neuen Job zu beweisen«, beteuerte Gemma. Sie stocherte in dem Salat herum und
wünschte, sie hätte etwas bestellt, was sich leichter essen ließ.
»Das ärgerliche ist nur«, sagte Daisy, »daß es
sich bei dir wahrscheinlich nur um eine Art von Nervosität handelt. Bei mir
dagegen sitzt es tiefer.«
Sie tunkte eine Scheibe italienisches Bauernbrot
in das kleine Schälchen Olivenöl, das mitten auf dem Tisch stand und nach
Basilikum duftete, und führte es an ihre Lippen.
»Aber gehört das denn nicht dazu?« erwiderte
Gemma und fiel selbst nach zehn Jahren Trennung noch mit Leichtigkeit in ihre
natürliche Rolle als die ältere und weisere Schwester zurück. »Du glaubst,
deine Minderwertigkeitsgefühle seien echter als die aller anderen. Wenn du
darüber nachdenkst, dann kommst du darauf, daß das eine umgekehrte Form des
Konkurrenzdenkens ist...«
»Aber in meinem Fall ist es wahr !«
beharrte Daisy. Sie kicherte fast, da sie erkannte, daß sie Gemmas Aussage
gerade unter Beweis gestellt hatte. »Ich meine, ich habe nie studiert, ich habe
immer nur improvisiert, oder etwa nicht?«
Wenn sie dieses Gespräch in ihrer Phantasie
geführt hätte, dann hätte Gemma das bejaht. Ja, Daisy, es ist eine Tatsache,
daß du schon immer ungeschoren davongekommen bist. Aber jetzt, als ihre
Schwester ihr gegenübersaß und ganz offensichtlich bedrückt war, konnte sie
sich nicht dazu durchringen, es zu sagen. Wenn sie dieses Gespräch mit kühler
Distanz analysiert hätte, wie sie in den letzten zehn Jahren schon so viele
ihrer früheren Gespräche analysiert hatte, dann wäre sie zu der Schlußfolgerung
gelangt, daß Daisy andere noch genauso manipulierte, wie sie es schon immer
getan hatte: Sie beugte jeder Form von Kritik vor, die auf sie zukommen könnte,
indem sie sie vorwegnahm und sich selbst kritisierte, damit man Mitleid mit ihr
hatte. Das ärgerliche war nur, sagte sich Gemma jetzt, daß Manipulationen
Überlegung erforderten, und was sie bei ihrer Neuerschaffung Daisys als einem
hassenswerten Feindbild vergessen hatte, war, daß sie das Leben absolut spontan
anpackte und diese unglaubliche Unschuld besaß, die ihr gar nicht bewußt war.
Genau das war es doch, was sie so liebenswert machte.
»Die Sache ist die, Gem«, sagte Daisy, »daß ich
ständig diese Artikel über Sex und Beziehungen schreibe, und dabei habe ich in
meinem ganzen Leben nur zwei Liebhaber gehabt.«
Gemma sah die Weinflasche an und stellte fest,
daß sie fast leer war.
»Wer war der andere?« Sie wollte das Gespräch so
lange wie möglich von dem Thema Oliver freihalten. Gemma glaubte, Daisy müsse
ihre Unschuld in Frankreich verloren haben, als sie damals ein ganzes Jahr lang
fort war, doch hatten sie nie die Gelegenheit gehabt, darüber zu reden.
»Hast du das denn nicht gewußt?« Daisy schien
erstaunt zu sein. »Ich dachte, du müßtest von selbst darauf gekommen sein.«
»Wer war es?«
»Vincenzo natürlich.«
Daisy legte ihre Gabel hin und ließ den Kellner
den Rest ihres Salats abservieren. Sie schlürfte einen Schluck Wein. Es war ihr
unmöglich, Gemma in die Augen zu sehen.
Gemma leerte ihr eigenes Glas. Daisy schenkte
beiden etwas nach.
Vincenzo war einer der Londoner Freunde ihrer
Mutter. Gemma hatte schon seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Wenn man sie
aufgefordert hätte, sämtliche Menschen aufzuzählen, die sie auf Erden kannte,
dann bezweifelte sie, daß sie seinen Namen genannt hätte, und wenn ja, dann
hätte sie ihn als einen der zahlreichen homosexuellen Bewunderer ihrer Mutter
hingestellt.
»Und ich dachte immer,
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