Es gibt kein nächstes Mal
waren schmutzig, und der Regen brachte den Geruch der
Kleidungsstücke erst richtig zur Geltung. Ihre gelben Zähne unter dem
knallroten Lippenstift, der in einer seltsamen Linienführung um ihren Mund
verteilt war, wiesen klaffende Lücken auf, doch in ihrem strahlenden Lächeln
drückte sich ihre Freude darüber aus, eine Gefährtin gefunden zu haben.
»Komm, Schätzchen«, sagte sie und nahm Daisy an
der Hand. »Laß uns tanzen.«
Trotz der ausgefransten Turnschuhe, die sie
trug, konnte die Frau wirklich tanzen. Daisy versuchte, sich von ihr führen zu
lassen.
»Happy again!« sangen die beiden, »what a
glorious feeling, I’m hap hap happy again...«
Als sie am Ende des Liedes angekommen waren,
setzte sich die Frau atemlos in den Schlamm, ohne auf die Pfützen zu achten.
»Du hast nicht zufällig ‘ne Kippe, Schätzchen?« keuchte sie.
»Nein, tut mir leid«, sagte Daisy. »Wo haben Sie
so gut tanzen gelernt?«
»Ich habe in Diamond Lil mitgespielt, mit
Mae West«, erwiderte die Frau in vollem Ernst. Aus irgendwelchen Gründen
glaubte Daisy ihr.
»Du hast nicht zufällig etwas Kleingeld übrig,
Schätzchen?«
Daisy fand in einer der hinteren Taschen ihrer
Jeans eine klatschnasse Zehnpfundnote und gab sie ihr. Die Frau sah den Schein
an. Dann stand sie auf, konnte ihr Glück nicht fassen und eilte ohne ein Wort
des Abschieds davon.
Es hörte auf zu regnen. Ein oder zwei Vögel
begannen zu singen.
»Ich bin komplett durchgedreht«, dachte Daisy,
als sie mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht den Hügel hinablief.
Daisy saß auf dem Bett und war in ihren weißen
Frotteebademantel gehüllt. Sie fühlte sich von dem Regen und dem Gesang
geläutert und von dem heißen Bad gewärmt, das sie gerade genommen hatte. Vor
ihr stand eine Holzkiste mit Messingscharnieren, die mit kunstvollen
Schnitzereien verziert war. Sie versuchte, sich davon zu überzeugen, daß sie
die Kiste nicht öffnen sollte. Sie war bemüht, sich damit zu begnügen, nur
einmal im Jahr einen Blick hineinzuwerfen, an Estellas Todestag, doch in
Krisenzeiten verstieß sie manchmal gegen diese Vorschrift, die sie selbst
aufgestellt hatte. Den kleinen Messingschlüssel trug sie immer an ihrem
Schlüsselbund mit sich herum. Er glitt in das Schloß, und die Kiste öffnete
sich mit einem Klicken.
Ganz oben lag ein ordentlich zusammengefalteter
langer Seidenschal. Er war rot und mit orange- und lilafarbenen Strudeln wüst
gemustert. Daisy nahm ihn so ehrerbietig in die Hand wie ein Geistlicher die
Oblate für die Heilige Kommunion. Sie schnupperte daran. Der Schal roch immer
noch nach ihr — eine liebliche Mischung aus Shalimar und Sandelholzseife. Daisy
faltete den Schal behutsam auseinander. Darin bewahrte sie eine dichte Locke
ihres Haars auf, lang, schwarz und von einem seidigen Schimmer. Daisy strich
die Locke auf ihrer Handfläche glatt, und dann hob sie die Hand, neigte den
Kopf und schmiegte ihre Wange an das Haar. Ihr Blick fiel auf den Spiegel an
der gegenüberliegenden Wand des Zimmers. Estellas Haarlocke war länger als ihr
eigenes Haar. Sie fiel schwarz auf den weißen Bademantel hinab. Es war
prachtvolles Haar, das seinen Glanz nicht eingebüßt hatte. Als Daisy diese
Locke streichelte und sie sich um die Finger schlang, fühlte sie sich ihrer
Mutter wieder nah und erinnerte sich an die letzten Momente, die sie gemeinsam
verbracht hatten.
Als Gemma sie tot aufgefunden hatte, war
Estellas Haar fettig und mit Kotze verklebt gewesen. Als Daisy zu Hause ankam,
war der Bestattungsunternehmer bereits da und traf Vorbereitungen für den
Abtransport der Leiche. Daisy hatte ihn aus dem Zimmer vertrieben. Sie hatte
eine Plastikschüssel mit heißem Wasser aus der Küche geholt und ihrer Mutter
mit deren Lieblingsshampoo das Haar gewaschen, während die Totenstarre
einsetzte. Dann hatte sie das Haar gründlich ausgespült und es getrocknet und
gekämmt, bis es glänzte. Das war ihre letzte Begegnung mit ihrer Mutter gewesen.
Was sie getan hatte, war ihr wie ein uraltes Ritual erschienen. Schließlich
hatte Daisy ihre Mutter dann um Erlaubnis gebeten, ehe sie nach einer
Nagelschere griff und auf dem Hinterkopf, wo es, wie sie ihr versicherte,
niemand sehen würde, eine lange Strähne abgeschnitten. Erst dann hatte sie den
Bestattungsunternehmer wieder hereingerufen, damit er seine Arbeit erledigen
konnte.
Daisy wickelte das Haar behutsam in den
Seidenschal und legte ihn neben sich. Sie nahm die Fotografie aus der Kiste.
Sie war
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