Es gibt kein nächstes Mal
auf dem Ponte Vecchio in Florenz aufgenommen worden. Während dieses
gemeinsamen Urlaubs hatten sie zahlreiche Schnappschüsse voneinander gemacht,
doch erst am letzten Tag hatte Estella festgestellt, daß sie kein einziges Foto
hatten, auf dem sie gemeinsam zu sehen waren. Sie hatte einen Passanten
angehalten, einen sehr gut aussehenden Italiener, wie Daisy sich lächelnd
erinnerte, und sie hatte ihm laut und langsam auf Englisch Anweisungen erteilt.
»Wahrscheinlich läuft er mit der Kamera weg,
sowie ich ihm den Rücken kehre«, hatte sie gesagt und ihre Stimme dabei kaum
gesenkt, als sie an Daisys Seite zurückkehrte. Sie standen umschlungen da und
lächelten in die Kamera, während er etliche Schnappschüsse von ihnen aufnahm.
Dann brachte er die Kamera zurück.
»Vielen herzlichen Dank«, hatte Estella gesagt,
von Kopf bis Fuß die huldvolle Engländerin im Ausland.
»Es war mir ein Vergnügen«, hatte er mit einem
vollendeten Eton-Akzent erwidert und Daisy zugezwinkert, ehe er auf dem Absatz
kehrtgemacht und den Weg zu den Boboligärten eingeschlagen hatte.
Beide lächelten strahlend in die Kamera, und die
Verwandtschaft zwischen ihnen war nicht zu übersehen. Daisy erinnerte sich
daran, wieviel Vergnügen es Estella bereitet hatte, wenn Leute sich
erkundigten, ob sie Schwestern seien; ihre Eitelkeit hatte mit dem gesunden
Menschenverstand gerungen und den Sieg davongetragen. Ihre Mutter war
wunderschön, doch ihre dunkle, nahezu südländische Schönheit hielt dem Altern
nicht stand. Sie sah tatsächlich aus wie fünfzig, sagte sich Daisy. Sie wußte,
daß es Estella vor dem Alter gegraut hatte. Hatte sie sich deshalb umgebracht?
Weil ihr die Vorstellung, alt zu werden, unerträglich war? Daisy schluckte und
versuchte zu verhindern, daß dieser Gedankengang sich verselbständigte und unaufhaltsam
weiterrollte. Sie legte das Foto mit der Bildseite nach unten auf das Bett.
Darunter lag ein kleiner, dünner Band, dessen
Buchdeckel sich schon fast vom Buchrücken gelöst hatten. Biskuit und Donut, von Bertrand Rush. Auf dem Einband war ein Bild von den Puppen, und der Titel
war in der unverwechselbaren Handschrift ihres Vaters hingekritzelt. Daisy
schlug das Buch auf und las die Widmung: »Meinen vollkommenen Töchtern«.
Sie blätterte die Seiten durch, obwohl sie die
Geschichte auswendig kannte. Es hatte sie schon immer ein wenig geärgert, wie
fett ihr Vater sie dargestellt hatte.
Ganz unten, auf dem Boden der Kiste, lag der
Umschlag. Dickes, eierschalfarbenes Velinpapier, auf dem in schwarzer Tinte,
die im Lauf der Jahre rostig geworden war, »Daisy« stand. Daisy wußte, daß sie
diesen Umschlag nicht öffnen sollte.
Meine liebste Daisy, wie könnte ich Dir auch nur
annähernd sagen, wieviel Freude Du mir bereitet hast! Ich weiß, daß ich nicht
gerade eine gute Mutter gewesen bin, aber Dich zu haben, mein geliebtes Kind,
war das größte Geschenk von allen.
Ich hoffe, Du wirst niemals herausfinden, warum
ich Dich jetzt verlassen muß. Es wäre mir unerträglich, wenn Du soviel Schmerz
fühltest, und eine solche Verantwortung. Aber so ist es viel, viel besser.
Glaube mir.
Alles, worum ich Dich bitte, ist, Dein Leben zu
genießen: Tu alles, was Du willst, und sei alles, was Du willst. Tu es für
mich. Dein Glück wird mein Vermächtnis an die Welt sein. Es wird mir das Gefühl
geben, etwas richtig gemacht zu haben.
Sei nicht lange traurig, mein Liebling.
Ich liebe Dich mehr als das Leben.
Estella, Deine Mutter
Als ob, schniefte Daisy, sie irgendeine andere
Estella gekannt hätte.
Sie hatte den Anfang dieses Briefes immer als
verwirrend empfunden, den Schluß als absurd. Nach den ersten Tagen ihrer Trauer
hatte der Brief sie in große Wut versetzt. Wie konnte ihre Mutter bloß so dumm
gewesen sein? Wie hatte sie glauben können, Daisy könnte jemals wieder
glücklich sein, wenn sie tot war? Da sie sich aus freien Stücken entschlossen
hatte zu sterben?
Der Gerichtsmediziner hatte den Brief als ein
Beweisstück für die Untersuchung mitgenommen. In ihrer Wut hatte Daisy ihm
mitgeteilt, sie wolle keine Kopie davon haben. Es sei ein dummer Brief,
erklärte sie, typisch für ihre Mutter, wenn sie sich von ihrer überspanntesten
melodramatischen Seite zeigte. Monate später, nachdem die gerichtsmedizinische
Untersuchung einen Selbstmord bestätigt hatte, wurde ihr der Brief jedoch
wieder zugeschickt. Damals hatte sie begonnen, ihn wie besessen immer wieder zu
lesen, in ihrem Bemühen, auf
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