Es muß nicht immer Kaviar sein
Können Sie die paar Minuten nicht vielleicht noch ordentlich stehen? Faules Gesindel!«
Demütig zuckend, sagte Thomas: »Verzeihung, die Herren.« Und nahm die Arme von der Barriere. Im nächsten Moment fiel er einfach um. Er konnte nicht mehr. Verzweifelt dachte er: Nicht ohnmächtig werden. Nur nicht ohnmächtig werden. Sonst ziehen sie mir den Mantel aus. Und sehen, was los ist. Mit meinen Beinen, mit meinem Buckel …
Er wurde nicht ohnmächtig, und jetzt, da feststand, daß der arme Häftling infolge der Aufregung einen Schwächeanfall erlitten hatte, bekam er sogar einen Stuhl. Kaum saß er, dachte er: Das hätte ich früher haben können, ich Idiot!
Um halb ein Uhr machten zwei Beamte Mittagspause. Der dritte kümmerte sich endlich um Thomas. Er spannte ein Formular in eine Maschine. Er sprach mild: »Reine Formalität. Ich muß noch einmal Ihre Personalbeschreibung aufnehmen. Damit keine Verwechslung vorkommt.«
Ja, da müßt ihr verflucht aufpassen, dachte Thomas. Seit er sitzen durfte, fühlte er sich wieder ausgezeichnet. Er leierte die Daten seines Freundes herunter, die er auswendig gelernt hatte. »Alcoba Lazarus, ledig, römisch-katholisch, geboren in Lissabon am 12. April 1905 …«
»Zuletzt wohnhaft?«
»Rua Pampulha 51.«
Der Beamte verglich die Angaben mit den Angaben eines zweiten Formulares und tippte weiter: »Haar ergraut, schütter. – Sie sind aber früh kahl geworden!«
»Mein schweres Schicksal.«
»Hrm! Augen schwarz. Größe? Stehen Sie auf!«
Thomas stand auf und knickte die Knie ein. Der Beamte musterte ihn. »Besondere Kennzeichen?«
»Buckel, und dann im Gesicht …«
»Ja, ja, schon gut. Hrm! Setzen Sie sich wieder.«
Der Beamte tippte und schrieb. Dann führte er Thomas in einen anschließenden Raum und übergab ihn dem Asservatenverwalter. Als Untersuchungsgefangener hatte er seinen Anzug, seine Wäsche und seine geliebte goldene Repetieruhr behalten dürfen. Nun erhielt er den Paß und die Personalpapiere seines Freundes, erhielt Lazarus’ Geld, Taschenmesser und Wäscheköfferchen.
»Empfang quittieren«, sagte der Asservatenverwalter. Thomas unterschrieb ungelenk: »Alcoba Lazarus«.
Mein letztes Geld und mein schöner falscher französischer Geheimdienstpaß auf den Namen Jean Leblanc sind also beim Teufel, dachte er wehmütig. Mein Freund, der Maler, muß mir rasch einen neuen machen.
Hatte Thomas gehofft, um 14 Uhr 15 endlich, endlich die gräßliche Anstrengung überstanden zu haben, so erwies sich das als Irrtum. Man führte ihn durch endlose Gänge zum Anstaltsgeistlichen. Dieser, ein älterer Herr, sprach sehr innig zu Thomas und war tief gerührt, als der Entlassene plötzlich – offensichtlich erschüttert – bat, die Ermahnungen des Geistlichen kniend anhören zu dürfen …
Schwankend, mehr taumelnd als gehend, schleppte sich Thomas Lieven zehn Minuten vor drei Uhr portugiesischer Zeit am 16. November 1940 endlich über den Gefängnishof, in dem es nach der Gerblohe des anschließenden Lederwarenbetriebes stank, zum Tor. Zum letztenmal mußte er hier seine Entlassungspapiere vorweisen. Er zuckte schreckenerregend mit dem Mund, und sein Buckel stach schief durch das dünne Mäntelchen.
»Mach’s gut, Alter«, sagte der Mann, der die schwere Eisentür aufschloß. Durch sie schwankte Thomas Lieven in eine mehr als ungewisse Freiheit hinaus. Er schaffte es noch bis um die nächste Straßenecke. Dann fiel er noch einmal um und kroch auf allen vieren in ein Haustor, setzte sich auf eine Treppe und begann vor Wut und Erschöpfung zu heulen. Sein Paß war weg. Sein Geld war weg. Sein Besitz war weg. Sein Schiff war weg.
9
Noch am gleichen Tag wurde die Flucht des Häftlings Jean Leblanc entdeckt. In seiner Zelle fand der Wärter nur den Häftling Lazarus Alcoba vor, und zwar in einem bleischweren Dämmerschlaf.
Ein sofort herbeigerufener Arzt konstatierte, daß Alcoba nicht simulierte, sondern von schwersten Schlafmitteln betäubt war. Die Diagnose stimmte, nur hatte Lazarus sich selber betäubt, und zwar mit drei Pillen, die er dem Anstaltsarzt anläßlich einer Krankenvisite entwendet hatte …
Mit Hilfe von Spritzen und schwarzem Kaffee gelang es, den Häftling halbwegs wach zu bekommen und zu vernehmen. Daß es Alcoba und kein anderer war, den man vor sich hatte, erwies sich, als man den kleinen Mann auszog: An seinem Buckel war nicht zu rütteln!
Alcoba sagte aus: »Dieser verdammte Leblanc muß mir was ins Frühstück gegeben
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