Es muss nicht immer Mord sein
weit besorgter, als ich erwartet hatte. Ich glaube, ich bin an die
langweilige Logik gewöhnt, mit der Martin meine Verschwörungstheorien
zurückweist, also könnte ich die Anzahl der anonymen Anrufe ein wenig zu hoch
eingeschätzt haben, und möglicherweise habe ich auch ein ganz klein wenig damit
übertrieben, wie gespenstisch sich die Stimme meiner Anruferin anhörte.
»Klingt wie Misery. Diese miesepetrige
Tante, weißt du«, sagte Dave.
»Genaugenommen finde ich, daß ich mir eine
ziemlich gute Laune bewahrt habe, wenn man die Umstände betrachtet«, sagte ich
stolz.
»Nein, ich meine das Buch von Stephen King. Der
ist mein Lieblingsschriftsteller. Hat’s auch als Film gegeben. Hast du den
nicht gesehen?«
Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen
Horrorroman gelesen, und als Dave begann, mir mit allen drastischen Details die
Geschichte der Annie Wilkes zu erzählen, wurde mir auch klar, warum.
Ich merkte, daß ich begann, Rückzieher zu
machen.
»Na ja, wenn ich sage, Dutzende von Anrufen in
der Woche, hab’ ich vielleicht eher ein halbes Dutzend gemeint. Und, ich meine,
diese Person will mir offensichtlich nichts Böses. O.k., o.k., ich weiß, daß
die Frau in dem Roman auch ein Fan war, aber das ist bloß eine erfundene
Geschichte, stimmt’s, und schließlich gibt es ja sowieso keinerlei Hinweise,
daß es dieselbe Person ist... Ja, ich bin mir sicher, daß wir gestern abend
nicht verfolgt wurden... Ich meine, da haben Hunderte von Taxis in Camden
gehalten...«
»Weißt du, du bist echt süß, wenn du ins
Plappern gerätst«, unterbrach mich Dave. »Aber jetzt sei mal einen Moment still
und komm’ her.«
Ich saß mit untergeschlagenen Beinen am Fußende
des Bettes. Ich krabbelte zu ihm hin.
»Jetzt wollen wir uns doch mal deinen Arm
ansehen«, sagte er und nahm die Schlinge ab. Er bewegte den Arm vorsichtig,
drehte ihn erst in die eine Richtung und dann in die andere. Es war weit
weniger schmerzhaft als in der Woche zuvor.
»Ich glaube nicht, daß du die noch zu tragen
brauchst«, erklärte er und warf die Schlinge auf den Boden.
Dann begann er mein dünnes, weißes
Baumwollnachthemd aufzuknöpfen.
»Da bin ich mir auch nicht so sicher, ob du es
noch zu tragen brauchst«, sagte er lächelnd.
Ich nehme an, wenn man den ganzen Tag mit
anderer Leute Körper beschäftigt ist, verliert man seine Hemmungen. An diesem
Sonntag lernte ich, warum die meisten heterosexuellen Männer, die ich kannte,
sich auf Parties schnurstracks auf die erstbeste Krankenschwester stürzten, die
sie entdecken konnten. Ich würde nicht sagen, daß Daves Technik etwas
Klinisches hatte, aber er kannte sich eindeutig hervorragend in der Anatomie
aus.
Er mußte am Montagmorgen sehr früh weg. Ich
legte mich noch mal ins Bett, erschöpft, aber unfähig zu schlafen. Mein Körper
fühlte sich an, als habe er monatelang unter Narkose gestanden, käme jetzt aber
wieder zu sich. Ich nahm jede einzelne Pore und jede Sehne wahr, und ich kam
nicht dagegen an, daß meine Gesichtsmuskulatur sich zu einem breiten,
selbstzufriedenen Grinsen verzog.
Ich beschloß, ein paar Runden durch den Park zu
drehen. In der Luft hing eine leichte Feuchtigkeit, weil die Morgensonne noch
nicht heiß genug war, um den nächtlichen Tau zu vertreiben. Während ich
vorbeijoggte, schien jedes Blumenbeet zu tanzen vor rosa, purpurnen und roten
Blüten. Ich lief bis zum Rosengarten am Inner Circle, wo ich eine Pause
einlegte, um wieder zu Atem zu kommen und den süßen, sinnlichen Duft meiner
dunkelroten Lieblingsrosen einzuziehen. Dann ging ich nach Hause, vorbei an ein
paar anderen frühmorgendlichen Joggern, und fühlte mich großartig dabei.
Ich zog meine Joggingshorts und das T-Shirt aus
und brachte sie, zusammen mit meiner anderen Schmutzwäsche, auf dem Weg zur
Arbeit in den Waschsalon im Erdgeschoß.
Elena klebte gerade mit Tesafilm ein
handgeschriebenes Schild von innen ans Fenster. Es lautete: »Wohnung zu
vermieten. Näheres im Laden.«
»Heißt das, daß die Renovierungsarbeiten so gut
wie beendet sind?« fragte ich. Costas und seine Frau Elena hatten darauf
gewartet, daß die Handwerker weg waren, ehe sie die Wohnung unter meiner
anboten.
»Ja. Diese Woche, sagen sie«, erwiderte sie.
Sie nahm den Beutel mit meiner Wäsche, leerte
ihn in eine Maschine und sah mich dabei prüfend an. Ich würde nicht sagen, daß
Elena krankhaft neugierig ist, aber es entgeht ihr auch nicht viel.
»Also, warum schauen Sie drein wie Katze, die
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