Es: Roman
ziemlich plötzlich eingefallen zu sein, vielleicht an einem jener endlosen Tage nach Georgies Tod. Nach Georgies Ermordung.
Bei seinen ersten Fahrversuchen hatte Bill sich ein paarmal wirklich fast den Hals gebrochen. Einmal hatte er es absichtlich umstürzen lassen, um nicht in den Bretterzaun am Ende der Kossuth Lane zu rasen (genauer gesagt hatte er Angst gehabt, durch den Zaun zu krachen und dann die zwanzig Meter hinunter in die Barrens zu stürzen). Bei diesem Sturz hatte er sich eine zwölf Zentimeter lange Wunde zwischen Handgelenk und Ellbogen seines linken Arms zugezogen. Kaum eine Woche später hatte er nicht schnell genug bremsen können und war mit etwa fünfundfünfzig Kilometern pro Stunde über die Kreuzung von Witcham Road und Jackson Street gesaust, ein kleiner Junge auf einem riesigen Fahrrad von langweilig dunstgrauer Farbe (Silver war nur mit der Kraft größtmöglicher Einblildung wirklich als silbern zu bezeichnen), mit Spielkarten an den Speichen von Vorderund Hinterrad, die beim Fahren ein maschinengewehrartiges Knattern erzeugten. Wenn in jenem Augenblick gerade ein Auto gekommen wäre, wäre von Bill nur noch totes Fleisch übrig geblieben. Genau so tot wie Georgie.
Im Laufe des Frühjahrs hatte er dann allmählich gelernt, richtig mit Silver umzugehen. Weder seine Mutter noch sein Vater hatten bemerkt, dass er mit seinem Fahrrad den Tod direkt herausforderte. Vielleicht hatten sie es auch völlig vergessen, dieses alte Ding, dessen Farbe teilweise abgeblättert war, und das an regnerischen Tagen an der Garagenwand lehnte.
Aber obwohl Silver nach nichts aussah, fuhr er wie der Wind. Bills einziger Freund, Eddie Kaspbrak, hatte ihm gezeigt, wie man es pflegen musste – wo es geölt werden musste, welche Bolzen regelmäßig überprüft werden mussten, wie die Kette gespannt werden musste und wie man einen Platten flickte.
»Du solltest es neu lackieren«, hatte Eddie eines Tages gesagt, aber Bill wollte Silver nicht neu lackieren. Aus Gründen, die er sich selbst nicht hätte erklären können, wollte er, dass das Fahrrad genauso blieb, wie es war. Es sah erbärmlich aus, so als hätte es ein nachlässiger Besitzer regelmäßig im Regen stehen gelassen, als würde es quietschen und klappern und sich nur noch im Schneckentempo vorwärtsbewegen. Aber es war – seinem Aussehen zum Trotz – schnell wie der Wind. Es hätte sogar …
»Es hätte sogar den Teufel geschlagen«, sagt Bill Denbrough laut vor sich hin und lacht. Der Fette wirft ihm einen scharfen Blick zu; sein Lachen hat jenen heulenden Unterton, der Audra schon am Vorabend aufgefallen ist.
Ja, es sah schäbig aus mit der alten Farbe und dem altmodischen Gepäckträger über dem Hinterrad und der altmodischen Tut-Tuur-Tröte mit ihrem schwarzen Gummiball – diese Hupe war für alle Zeiten mit einer verrosteten Schraube so groß wie eine Babyfaust an der Lenkstange angebracht. Ziemlich schäbig.
Aber konnte Silver fahren? Konnte er? Wie der Teufel!
Und das war verdammt gut, dass er fahren konnte, denn Silver hatte Bill Denbrough in der vierten Juniwoche 1958 das Leben gerettet – der Woche, nachdem er Ben Hanscom zum ersten Mal begegnet war, der Woche, nachdem er und Ben und Richie »Schandmaul« Tozier und Beverly Marsh nach der Samstagsmatinee in den Barrens aufgetaucht waren. Richie saß hinter ihm auf Silvers Gepäckträger, an dem Tag, als Silver Bills Leben gerettet hatte … daher ging er davon aus, dass Silver auch das Leben von Richie gerettet hatte. Und er erinnerte sich an das Haus, aus dem sie geflohen waren. Er erinnerte sich genau daran. Das verfluchte Haus in der Neibolt Street.
An jenem Tag hatte er wirklich den Teufel geschlagen. Einen Teufel mit silbrigen Augen, die alten Münzen glichen. Einen haarigen alten Teufel mit einem Mund voller blutiger Zähne. Aber all das kam erst später. Wenn Silver an jenem Tag Richies und sein Leben gerettet hatte, dann hatte er vielleicht Eddie das Leben gerettet, an jenem Tag, als Ben Hanscom bei den Resten ihres Damms in den Barrens in ihr Leben getreten war. An jenem Tag, als Henry Bowers – der damals ziemlich ramponiert ausgesehen hatte – Eddie einen kräftigen Schlag auf die Nase versetzt hatte, worauf Eddie einen schweren Asthma-anfall bekommen hatte und sein Asthma-Spray leer gewesen war. Auch damals war Silver die Rettung gewesen.
Bill Denbrough, der seit fast siebzehn Jahren auf keinem Fahrrad mehr gesessen hat, schaut aus dem Fenster eines Flugzeugs, das
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