Es sterben immer drei
wegen Personalmangels schon seit Jahrhunderten nicht mehr regelmäßig von verstorbenen Fliegen gereinigt. Vor den Fenstern standen Sofas aufgereiht wie auf dem Deck eines Luxusliners, mit freiem Blick auf die blinkenden Sterne, die mit keinerlei städtischer Stromerzeugung konkurrieren mussten. Decken und Kissen versteckten die Tatsache, dass die Sitzgelegenheiten schon mehrere Generationen getragen hatten. Was sie allerdings auch besonders gemütlich machte. Kaum hatte jeder Platz gefunden, senkte sich der Lärmpegel, als ob ein Produktionsassistent mit einem Schild, auf dem »Psst!« stand, vor den Anwesenden auf und ab laufen würde. Jeder lehnte müde in seinem Polster, aber auch wieder nicht schläfrig genug, um nach Hause aufzubrechen. Nur Irmas Aufregung wollte einfach nicht abflauen. Die Tatsache, dass eine echte Contessa ihr Einlass in ihre Privatgemächer gewährt hatte, würde im Voralpenland für viel spannenden Gesprächsstoff sorgen. Da konnten nicht mal die Damen in den teuren Altersresidenzen am Tegernsee mithalten. Im Geiste sonnte sie sich schon im Neid ihres Stammtischs und war entsprechend blendend gelaunt. Stella war müde. Zu viel Tanzen, zu viel Essen, zu viel Alkohol, dieser Tag hatte es in sich gehabt. Am liebsten wäre sie ins Bett geflohen, um alles in Ruhe zu überdenken und gegebenenfalls zu überschlafen. Aber da machte Irma nicht mit. Sie wollte noch bleiben. Auf jeden Fall. Ermattet nahm Stella einen Whisky sour von demselben schwarzen Serviermädchen, das auch den Schnaps im Hof herumgereicht hatte. Schon wieder Alkohol. Wenigstens würden die Vitamine des Zitronensafts sie pushen. Neben ihr saß derConte und debattierte in Eliteinternat-Englisch mit Andreas über die beste Art, ein Wildschweinragout zuzubereiten. Männer unterhielten sich neuerdings gern über Kochrezepte. Kurz ging ihr durch den Kopf, ob sie so vielleicht sexuelle Energien sublimierten, hörte aber nicht weiter zu. Sie würde nie in die Verlegenheit kommen, Wildschwein zu verarbeiten. Zu ihrer Linken schaute sie auf einen unbekannten weiblichen Rücken in einem rosa Kaschmirpullover, der leise auf einen dünnen Mann mit Hitlerbärtchen einredete. Wurden die in Adelskreisen wieder gesellschaftsfähig? Sie sog an ihrem Strohhalm und schaute dem Mond bei seinem Abendspaziergang zu. Dann und wann warf sie einen Blick auf den Mann, der als Einziger hier ihr sexuelles Interesse erregte. Er saß auf der Lehne eines anderen Sofas und hörte Katharina zu, die ihm etwas Wichtiges mitzuteilen schien, denn er nickte immer wieder bestätigend mit dem Kopf. Dabei streichelte er ihren Arm, was Stella sonderbar vorkam. Öffentlich zur Schau gestellte körperliche Nähe zwischen einem Vertreter der Polizei und einer potenziellen Verdächtigen in einem Mordfall hätte in einem deutschen ›Tatort‹ auf sehr unschöne Verwicklungen hingewiesen. Wie hatte Katharina ihn Stella vorgestellt? »Mein junger Verehrer.« Im Moment sah alles danach aus, dass diese Einschätzung stimmte. Offensichtlich pflegte er eine große Bandbreite an Beziehungen zu weiblichen Kontaktpersonen. Stella unterdrückte den Anflug von Eifersucht. Er hatte geflirtet, das war sein gutes Recht, damit waren noch keinerlei Besitzansprüche verbunden. Er spürte ihren Blick und winkte ihr zu. Katharina lächelte sie an. Falsches Stück. Stella schaute schnell wieder weg. Luis war immer noch nicht aufgetaucht. Auch Kleemann blieb nach seinem Gefühlsausbruch verschwunden. Irma stand am Fenster und redete wild gestikulierend auf die Contessa ein. Ihre Mutter war die Einzige im Raum, die noch vor Energie sprühte. Die Mädchen mit den silbernen Serviertabletts trugen erneut verschiedene Sorten Salami, Schinken, Pasteten und Käse auf und Stella merkte, dass sie tatsächlich schon wieder Hungerhatte. Aber sie war zu faul, um aufzustehen und sich etwas zu holen. »Lust auf ein bisschen Wildschweinsalami?« Luis kam genau im richtigen Moment und erinnerte sich an seine vornehmste Aufgabe als Mann: einer Frau zu dienen. »Lieber Pastete.« Mit einem randvoll beladenen Teller setzte er sich auf den Platz, den der unbekannte Kaschmirrücken frei geräumt hatte, und aß, als hätte er den ganzen Tag nichts gekriegt. »Ein wirklich eifriger Vegetarier bist du aber nicht«, bemerkte Stella und nahm doch nur ein paar Trauben. Seine immer tadellos geputzten Turnschuhe zu seinem schicken grauen Anzug sahen aus wie frisch aus der Kanalisation gezogen. »Wo bist du denn
Weitere Kostenlose Bücher