Es stirbt in mir
weh.
Dienstag. Wahltag. Seit Monaten verpestet der Lärm der Kampagne die Luft. Die freie Welt wählt ihren neuen maximum leader. Die Lautsprecherwagen rollen den Broadway entlang, rülpsen Slogans. Unser nächster Präsident! Der Mann für ganz Amerika! Wählt! Wählt! Wählt! Wählt X! Wählt Y! Die hohlen Worte blenden ineinander über, verschwimmen, zerfließen. Republokrat. Demikaner. BOUM. Warum soll ich wählen? Ich werde nicht wählen. Ich wähle nicht. Ich bin nicht angeschlossen. Ich gehöre nicht zu diesem Stromkreis. Das Wählen überlasse ich denen. Einmal, ich glaube, es war im Spätherbst 1968, stand ich vor der Carnegie Hall und wollte zu der Buchhandlung auf der anderen Straßenseite hinüber, als plötzlich der Verkehr in der 67th Street zum Stehen kam und, wie die von Cadmus ausgesäten Drachenzahnkrieger, reihenweise Polizisten aus dem Pflaster wuchsen. Von Osten her kam eine Autokavalkade, und dort, in einer schwarzen Limousine, fuhr Richard M. Nixon, gewählter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, huldvoll dem versammelten Publikum zuwinkend. Endlich – meine große Chance! dachte ich. Endlich kann ich seine Gedanken lesen und zahllose große Staatsgeheimnisse erfahren; endlich werde ich erfahren, was es ist, das unsere Führer von den gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet. Ich sondierte seinen Geist, doch was ich dort fand, werde ich euch nicht verraten. Ich sage nur, daß ich es eigentlich hätte erwarten können. Seit jenem Moment will ich mit Politik und Politikern nichts mehr zu tun haben. Und deswegen gehe ich heute auch nicht zur Wahl. Sollen sie ihren Präsidenten allein wählen.
Mittwoch. Ich bastle an Yahya Lumumbas halbfertiger Semesterarbeit und ähnlichen Aufträgen herum, jeweils höchstens ein paar Zeilen. Ohne positives Ergebnis. Judith ruft an. »Eine Party«, erklärt sie mir. »Du bist auch eingeladen. Überhaupt alle werden da sein.«
»Eine Party? Bei wem? Wo? Warum? Wann?«
»Samstagabend. In der Nähe der Columbia University. Gastgeber ist Claude Guermantes. Kennst du ihn? Er ist Professor für französische Literatur.« Nein, der wirkliche Name ist nicht Guermantes. Ich habe den Namen geändert, um die Schuldigen zu schützen. »Er ist einer von diesen neuen Professoren, die so ein tolles Charisma haben. Jung, dynamisch, gut aussehend, befreundet mit Simone de Beauvoir, mit Genet. Karl und ich gehen auch. Und eine ganze Menge anderer Leute. Er lädt immer ungeheuer interessante Menschen ein.«
»Genet? Simone de Beauvoir? Kommen die auch?«
»Nein, Dummchen, die nicht. Aber es lohnt sich wirklich. Claude gibt die besten Partys, die ich kenne. Mit einer brillanten Zusammensetzung der Gästeliste.«
»Klingt in meinen Ohren nach Vampir.«
»Er nimmt aber nicht nur, er gibt auch selbst, Dav. Er hat mich ausdrücklich gebeten, dich einzuladen.«
»Woher kennt er mich denn?«
»Von mir«, antwortete sie. »Wir haben über dich gesprochen. Er ist wahnsinnig gespannt auf dich.«
»Ich mag keine Partys.«
» Dav… «
Diesen Ton kenne ich, der ist gefährlich. Und im Augenblick habe ich nicht die Kraft für einen Streit. »Na schön«, antworte ich seufzend. »Samstagabend. Gib mir die Adresse.« Warum bin ich so nachgiebig? Warum lasse ich mich von Judith manipulieren? Versuche ich so, durch diese Kapitulationen, meine Liebe zu ihr aufzubauen?
Donnerstag. Am Vormittag schaffe ich zwei Abschnitte für Yahya Lumumba. Was seine Reaktion auf diesen Aufsatz betrifft, den ich für ihn schreibe, so bin ich im Zweifel. Möglicherweise gefällt er ihm gar nicht. Falls ich ihn überhaupt je fertig kriege. Aber ich muß ihn fertig kriegen. Ich habe noch nie einen Termin überschritten. So etwas wage ich einfach nicht. Am Nachmittag gehe ich zu Fuß zur Buchhandlung in der 230th Street; weil ich frische Luft brauche und weil ich, wie üblich, nachsehen will, ob sie seit meinem letzten Besuch drei Tage zuvor wieder etwas Interessantes hereinbekommen haben. Wie unter Zwang kaufe ich ein paar Paperbacks: eine Anthologie unbekannterer metaphysischer Dichter, Updikes Rabbit Redux und eine dicke anthropologische Studie von Levi-Strauss über die Bräuche bei den Stämmen am Amazonas, die ich, wie ich ganz genau weiß, doch niemals durchlesen werde. An der Kasse sitzt eine neue Angestellte: ein junges Mädchen, neunzehn, zwanzig, blaß, blond, weiße Seidenbluse, kurzer Schottenrock, unpersönliches Lächeln. Trotz ihres leeren Blicks attraktiv. Sie interessiert mich
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