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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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empfangen! Ich mache mich mit einem Trommelwirbel bemerkbar. Klingle noch einmal, anhaltender, schriller. Ah! Ja! Die Tür wird geöffnet. Ein untersetztes, dunkelhaariges junges Mädchen, sieht aus wie ein Schulkind, in einer Art orangefarbenem Sari, der ihre kleine, rechte Brust freiläßt. Nudität a la mode. Sie fletscht fröhlich die Zähne. »Nur herein! Nur herein! Nur herein!«
    Ein Chaos. Achtzig, neunzig, hundert Menschen, alle in die grellen Farben der Siebziger gekleidet, in Gruppen zu acht oder zehn zusammenstehend, einander profunde Weisheiten zuschreiend. Diejenigen, die keinen Highball in der Hand halten, lassen eifrig Joints kreisen, ritualistisch zischendes Inhalieren, viel Gehuste, ekstatisches Aushauchen. Bevor ich noch meinen Mantel ausziehen kann, stopft mir jemand eine reich geschnitzte Elfenbeinpfeife in den Mund. »Superhasch!« verkündet er. »Frisch von Damaskus. Los, Mann, nehmen Sie ’n paar Züge!« Wohl oder übel ziehe ich ein paarmal und spüre die Wirkung auch sofort. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder. »Ja«, ruft mein Wohltäter, »das läßt einem die Sinne vergehen, was?« In diesem Gewühl sind mir die Sinne schon fast vergangen, sans cannabis jedoch, allein von dem überwältigenden Input. Meine Gabe scheint heute abend mit verhältnismäßig großer Kraft zu arbeiten, nur leider nicht mit großer Trennschärfe, und so empfange ich eine dicke Brühe ineinandergreifender Emanationen, ein wirres Durcheinander verschmelzender Gedanken. Diffuses Zeug. Pfeife und Pfeifenbesitzer verschwinden und ich stolpere benommen vorwärts in einen zum Bersten gefüllten Raum, dessen Wände mit vollgestopften Bücherregalen bedeckt sind. Ich sehe Judith im selben Moment, als sie mich auch entdeckt, und empfange von ihr auf einer direkten Kontaktleitung, wild und deutlich zuerst, dann innerhalb von Sekundenbruchteilen verschwommen: Bruder, Schmerz, Liebe, Angst, gemeinsame Erinnerungen, Verzeihen, Vergessen, Haß, Feindseligkeit, Murmphigkeit, vooms, ssshh, mmm. Bruder, Liebe. Haß. Ssshhh.
    »Dav!« schreit sie laut. »Hier bin ich, David!«
    Judith sieht sexy aus, heute abend. Ihr langer, geschmeidiger Körper steckt in einem purpurfarbenen, hautengen, bis an den Hals zugeknöpften Seidenkleid, das ihre Brüste, die kleinen Erhebungen ihrer Brustspitzen und das Tal zwischen ihren Gesäßbacken betont. An ihrem Busen glitzert ein Stück goldgefaßte, kunstvoll geschnitzte Jade; die Haare fallen lose herab. Ich bin stolz auf ihre Schönheit. Sie ist flankiert von zwei eindrucksvoll wirkenden Herren. Zu ihrer einen Seite Dr. Karl F. Silvestri, Verfasser der Studies in the Physiology of Thermoregulation. Er entspricht in etwa dem Bild, das ich vor ein bis zwei Wochen in Judiths Wohnung in ihren Gedanken gefunden habe, nur ist er älter als ich gedacht hatte, mindestens fünfundfünfzig, vielleicht sogar schon sechzig. Und größer: ungefähr sechs Fuß fünf. Ich versuche mir seinen großen, schweren Körper auf Judiths graziler Gestalt vorzustellen, wie er sich auf sie wälzt. Ich kann es nicht. Seine Wangen sind rosig, seine Miene ist ruhig und selbstzufrieden, seine Augen blicken sanft und intelligent. Er strahlt etwas Onkelhaftes, ja sogar Väterliches für sie aus. Jetzt verstehe ich, warum Jude sich von ihm angezogen fühlt: Er ist die starke Vaterfigur, die der arme, geschlagene Paul Selig niemals für sie hatte sein können. Zu Judiths anderer Seite ein Mann, in dem ich Professor Claude Guermantes vermute; ein rasches Sondieren in seinem Kopf bestätigt meine Vermutung. Sein Geist ist wie Quecksilber, ein glitzernder, schimmernder Teich. Er denkt in drei oder vier Sprachen gleichzeitig. Seine ungestüme Energie ermüdet mich bei der ersten Berührung. Er ist ungefähr vierzig, nicht ganz sechs Fuß, muskulös, athletisch; das elegante, sandfarbene Haar trägt er in barocken Wellen, sein kurzer Knebelbart ist tadellos gestutzt. Seine Kleidung ist im Stil so avantgardistisch, daß ich sie mit Worten nicht beschreiben kann, denn ich selbst achte überhaupt nicht auf die Mode: eine Art ärmelloser Überwurf aus grobem grün-goldenem Gewebe (Leinen? Musselin?), eine scharlachrote Schärpe, weite Seidenhose und mittelalterliche Schuhe mit nach oben gewandten Spitzen. Aus seiner dandyhaften Erscheinung und seiner manierierten Pose könnte man schließen, daß er schwul ist, aber er strahlt eine überwältigende Heterosexualität aus, und nach Judiths Verhalten sowie den liebevollen

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