Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
du je gesehen hast.« Von den Erinnerungen gepeinigt, rieb Roland sich seufzend die Augen. »Johanna dachte, wenn sie zu dem Riesen ginge, wenn sie ihm erklärte, wer sie war und dass der Riese sein neues Leben in Reichtum und Luxus den Taten ihres Bruders verdankte, dann,dachte sie, wäre er ihr vielleicht freundlich gesonnen. Dass ihre Notlage ihn rühren würde.«
»Aber das hat sie nicht.«
»Doch, hat sie! So sehr, dass er sich in Johanna verliebt und sie gebeten hat, für alle Zeiten bei ihm zu bleiben. Natürlich wollte sie nicht, aber unsere Lage wurde immer verzweifelter. Am Ende trafen sie eine Übereinkunft. Johanna würde in der Burg des Riesen leben, als sein geschätzter Gast, aber jedes dritte Wochenende nach Bad am See zurückkehren, um die Zeit an dem Ort zu verbringen, den sie seit ihrer Kindheit kannte, um den Markt zu besuchen, um sich in der Gesellschaft zu bewegen und …«
»… ihren Liebhaber zu treffen.«
Rolands Stimme klang gepresst unter der Last der Gefühle. »Das war nur für eine kurze Zeit gedacht, bis ich meinen Vater von seinem schrecklichen Laster kuriert hätte. Bis mein Bruder alt genug wäre, um zu begreifen und zu helfen. Bis ich unser verlorenes Geschäft wieder aufgebaut hätte und genug Geld verdienen würde, um meine Familie und eine Gemahlin zu ernähren. Aber aus Wochen wurden Monate, und aus Monaten wurden Jahre.«
Etwas regte sich in Gretels Erinnerung, und sie stocherte mit einem geistigen Finger darin herum, bis es sich ihr zeigte.
»Der Fahrer der Postkutsche!«, rief sie. »Vollkommen vermummt, dass man kaum seine Augen sehen konnte, und das an einem warmen Frühlingstag. Das warst du!«
»An diesen Wochenenden habe ich den Platz mit dem Fahrer getauscht. Er hat sich auf unsere Kosten beim Bier ausgeruht, und ich bin nach Bad am See gefahren und habe diese wenigen kostbaren Tage mit meiner Geliebten verbracht.«
»Und sie hat dir Geld gegeben, wenn es ihr gelungen ist, etwas aus dem Riesen herauszukitzeln?«
»Ja. Manchmal war es nur sehr wenig, manchmal eine Kostbarkeit, die ich erst veräußern musste. Der Riese war ihr gegenüber großzügig und hat sie freigiebig beschenkt, ihr aber nie größere Mengen Geld gegeben. Und von Zeit zu Zeit wollte er die Geschenke sehen, um sich zu vergewissern, dass sie sie nicht verkauft hatte.«
»Und ihr habt bald in einer misslichen Lage festgesteckt. Ich verstehe.« Sie hielt kurz inne. »Einen Moment mal. An dem Tag, an dem Hänsel und ich nach Bad am See gereist sind, hat Johanna in Gesternstadt gewohnt und in Madame Renoirs Salon gearbeitet. Ich habe sie selbst dort gesehen. Warum bist du hingefahren, obwohl sie nicht mehr dort gewohnt hat?«
»Der Riese war die Vereinbarung leid. Er wollte nicht, dass sie ohne ihn irgendwohin ging. Vor Eifersucht hat er Wutanfälle bekommen, die zu erleben wirklich schrecklich war.«
»Das arme Kind.«
»Sie konnte nicht mehr dort bleiben. Ihr war klar, dass sie sehr bald nur noch seine Gefangene wäre. Eines Tages hat sie die Gelegenheit zur Flucht genutzt und ist nach Gesternstadt gekommen.«
»Aber du hast sie nicht aufgenommen.«
»Ich konnte nicht! Die Werkstatt war niedergebrannt, mein Vater untröstlich, wir hatten sogar noch weniger Geld als zuvor, und dann waren da noch die Drohungen. Schreckliche Drohungen, die gegen alle ausgesprochen wurden, die ihm nahestanden.«
»Die Geldverleiher.«
»Es war nicht sicher für Johanna, sich mit mir sehen zu lassen. Und dann …« Er strich sich mit der Hand durch das matte,herabhängende Haar. »Eines Tages bin ich zum Sommerschloss gefahren, um ein neues Rad für eine der königlichen Kutschen auszuliefern.«
»Und da bist du Prinzessin Charlotte begegnet.«
»Zuerst habe ich ihr Interesse gar nicht ernst genommen. Kein König würde seiner Tochter gestatten, dem Sohn eines bescheidenen Handwerkers ihre Zuneigung zu schenken. Umso weniger dem eines bankrotten Handwerkers.«
»Ich nehme an, was Prinzessin Charlotte will, bekommt sie auch.«
»Wir haben uns an allen möglichen Orten getroffen. Das hat einen Teil des Reizes ausgemacht, jedenfalls für sie. Die Tarnung. Die Gefahr, erwischt zu werden. Manchmal haben wir uns in Bad am See getroffen. Immerhin hatte ich bereits eine Methode entwickelt, um unauffällig die Stadt zu besuchen.«
»Manchmal habt ihr euch in einem kleinen Wäldchen getroffen, kaum eine Meile außerhalb von Gesternstadt.«
»Ja. Und jedes Mal habe ich mir geschworen, es wäre das letzte
Weitere Kostenlose Bücher