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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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der ersten Aktion umkam.
    Hier in Israel, erzählte Itta aufgewühlt, führte das Schicksal die beiden an einem Herbsttag in der Allenby-Straße vor dem Markt wieder zusammen.
    »Avram, bist du das?« fragte Tova überrascht, als sie ihn vorbeigehen sah. »Ich bin’s, Tovale!« Und zögernd fügte sie hinzu: »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
    Avram antwortete nicht. Er stellte die Frage, die er schon seit einigen Jahren jedem stellte, den er traf: »Was ist mit meiner Familie passiert?«
    Tova schwieg.
    »Ich weiß, daß keiner geblieben ist«, sagte er mit gebrochener Stimme, und als sich seine Augen mit Tränen füllten, trat er einen Schritt zurück, drehte sich um und lief davon.
    Tova hob den kleinen Koffer, den sie abgestellt hatte, wieder hoch und wollte zur King-George-Straße gehen, zu dem Zimmer, das ihr die Jewish Agency zugewiesen hatte.
    Aber da kam Avram wieder zurück. »Tovale!« rief er. Und dann fragte er sie: »Und deine Familie … ist noch jemand da?«
    Tova schwieg.
    »Auch ich, weißt du, auch ich bin allein«, sagte Avram. »Vielleicht«, schlug er aufgewühlt vor, »vielleicht sollten du und ich zusammen eine Familie gründen.« Und so, mit einem einzigen Koffer in der Hand, kam Tova in unser Viertel.
    Und dann, während sie noch einen Schluck Wasser aus dem Glas nahm, das vor ihr auf dem Tisch stand, sagte Itta: »Und sie haben, wie du ja weißt, hier im Viertel eine Familie gegründet.« Sie seufzte.
    Tova war eine ausgezeichnete Hausfrau und Avram ein vorbildlicher Ehemann. Im Hof richtete er sich eine kleine Schreinerei ein.
    Als ihr Chajim geboren wurde, war die Freude groß.
    Aber mit der Freude war es bald vorbei. Chajim bekam hohes Fieber und Krämpfe, und Doktor Wollmann diagnostizierte Kinderlähmung. Tova fuhr fort mit ihrer täglichen Routine. Sie führte einen tadellosen Haushalt: Sie kochte, wusch, kaufte ein und hörte auf zu lächeln.
    Avram verbrachte seine Tage damit, nach einer Medizin für seinen Chajim zu suchen.
    In den Jahren danach spielte das Leben den Sinnreichs grausam mit. Chajims Beine verkrümmten sich, er benötigte mehrere Operationen, Krankenhausaufenthalte und spezielle Krücken. Die Schreinerei im Hof wurde geschlossen, sie waren gezwungen, ihre wenigen Habseligkeiten zu verkaufen, Möbel, Bücher und Geschirr, um die Behandlungen zu bezahlen.
    Ich erinnerte mich noch gut, wie sich die Nachbarn damals,in den schweren Jahren, bemühten, der Familie Sinnreich zu helfen.
    Alles, was man selbst aussortierte – Kleidungsstücke, Geschirr, Bücher und sogar Möbel –, stellte man spätabends vor die Tür ihres Hauses.
    »Mitleid zeigt man nicht vor aller Augen«, sagte meine Mutter und stellte spätabends einen Petroleumofen vor ihre Tür, für kalte Tage, legte Bettwäsche hin, Decken und manchmal auch etwas zu essen und Medikamente.
    Dorka, Guta, Zila und Frau Poliwoda besuchten die arme Tova Sinnreich jeden Tag, damit sie, Gott behüte, nicht der Verzweiflung anheimfiel. Itta lud die Sinnreichs immer ein, mit ihr den Schabbat und die Feiertage zu begehen, und alle Eltern verlangten von ihren Kindern, mit dem gelähmten Chajim achtungsvoll umzugehen.
    Als wir in der siebten Klasse waren, an einem verregneten Wintertag, parkte vor dem Haus der Familie Sinnreich ein Auto, ein neuer Sussita.
    »Boże mój«, schrie Dorka, als sie von ihrem Fenster aus das Auto sah, und alarmierte damit alle im Viertel.
    »Ein Geschenk von einem Verwandten aus Amerika«, versuchte Avram zu erklären.
    Tova stand blaß und schweigend in der Tür.
    Für Dorka, Guta, Zila und Frau Poliwoda stand fest, Familie Sinnreich habe psiakrew ** -Wiedergutmachung von Gott-möge-ihre-Namen-auslöschen erhalten.
    Das Gerücht verbreitete sich im Viertel, und viele kamen, um das Auto anzuschauen, sie umringten es und konnten es nicht glauben.
    Auch meine Mutter stand dort, inmitten der anderen, sie stand da und schwieg.
    »Wer hätte das geglaubt? Bei uns im Viertel ein Auto vom Geld der Deutschen!« rief Sarka. »Jetzt gibt es hier eine Katastrophe.«
    Sie rang die Hände und schaute sich erschrocken um, als wolle sie sehen, wer von den Anwesenden wegen der Sünde der Sinnreichs tot umfallen würde. Aber Guta, die Frau des Rabbiners, die verstanden hatte, was Sarka befürchtete, beruhigte sie in entschiedenem Ton: »Ein jeglicher soll um seiner Sünde willen sterben.«
    Am Abend desselben Tages wurde ihnen das Fenster mit einem Stein eingeworfen, die Reifen des Autos wurden zerstochen,

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