Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
Vom Netzwerk:
hinzu: »Kopf kaputt, viel kaputt.« Sie streichelte zärtlich die Hand von Herrn Gottesmann, der den Blick nicht von den Fotos wandte.
    Lange betrachtete auch ich die Gesichter der fremden Menschen, Menschen von einst, die mich starr und traurig von den vergilbten Fotos anschauten. Ich betrachtete sie frustriert. Sie waren ihr Leben, dachte ich, und mir, ihrer einzigenTochter, hat sie nichts von ihrer Kindheit und Jugend erzählt, ich kannte weder ihre Eltern noch ihre Familie, ich wußte nichts von ihren Lieben, ihren Leiden und ihren Sehnsüchten, sie war gestorben, ohne daß ich irgend etwas erfahren hätte.
    Die Pflegerin unterbrach meine Gedanken. »Das Onkel, Ihr Onkel«, sagte sie, halb als Frage, halb als Feststellung.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich ihr.
    Sie lächelte. »Schön«, sagte sie, »schön.«
    »Nehmen«, mischte sich Herr Gottesmann in das Gespräch, »nehmen.« Aber als ich die Hand ausstreckte, um das angebotene Foto in Empfang zu nehmen, zog er es zurück, steckte es wieder in die Tüte und drückte diese fest an seinen Körper.
    »Warum lächelt niemand auf den Bildern?« fragte ich und deutete auf die Fotos, die noch auf dem Tisch lagen.
    Mein Gast lauschte mir aufmerksam. »Helena nicht«, antwortete er und weinte.
    Als sie sich verabschiedeten, fiel es Herrn Gottesmann schwer, sich zu beruhigen, er schluchzte immerfort. Die Pflegerin wischte ihm immer wieder die Tränen ab und sagte: »Auf Wiedersehen, bis andermal.«
    Herr Gottesmann breitete ein paar brüchige Fotos auf dem Tisch aus und küßte jedes einzelne, bevor er wegging.

    Ich machte mich wieder daran, die Wohnung auszuräumen und Sachen zusammenzupacken.
    Ich nahm die gestärkten Handtücher, die mir in meiner Kindheit die Haut aufgescheuert hatten, und gebügelte Baumwollbettwäsche aus den Schränken. Und die Bücher, die wie ein Schatz hinter Glas aufbewahrt wurden, damit der Staub und die Zeit ihnen nichts anhaben konnten.
    Vom Stauboden holte ich alte Koffer, die dort in Stapeln verstaubten.
    »Warum haben wir so viele Koffer?« hatte ich als Kind einmal gefragt.
    »Eines Tages, wenn wir weg müssen«, antwortete meine Mutter, »packen wir alle wichtigen Sachen in die Koffer und gehen.«
    Und »bis wir gehen«, lagerte sie in ihnen Papiere, Bankauszüge und Dokumente.
    Ein Geruch von Staub und Moder stieg aus ihnen auf. Schnell steckte ich den Inhalt der Koffer in Müllsäcke, da zog ein altes, vergilbtes und brüchiges Stück Papier meine Aufmerksamkeit auf sich.

    Sehr geehrte gnädige Frau,
    ich bitte Sie hiermit, wegen eines Antrags auf Wiedergutmachung, den Sie gestellt haben, mein Büro aufzusuchen. Zu Ihrer Information teile ich Ihnen Ihre Aktennummer mit …

    Genau an dieser Stelle war ein großes Loch im Blatt. Es folgte die Unterschrift: Rechtsanwalt und Notar Menachem Herz. Ich schaute mich verwirrt um. In der halb ausgeräumten Wohnung befand sich nichts als angeschlagenes Geschirr, Möbel, die am Auseinanderfallen waren, und verschlissene Kleidungsstücke. Ich erinnerte mich genau, wie ich in schweren Zeiten zu einer Mahlzeit das Püree zu essen bekam und zur nächsten die Frikadelle und wie meine Mutter das wenige Geld zählte, das sie verdiente, es in braune Papiertüten verteilte und verkündete: »Das ist für den Lebensmittelhändler, das für den Gemüsemann.« Und wenn die Zeiten etwas besser waren, sagte sie auch noch mit glänzenden Augen: »Und das ist für dich, für die Universität.«
    Verwirrt las ich den Brief ein zweites Mal.
    An einem schönen Frühlingstag spielten die schöne Racheli Tuchmayer, Roni und ich Murmeln. Chajim Sinnreich näherte sich uns, auf seinen Krücken humpelnd. Arale flüsterte uns zu: »Hört auf zu spielen, der Pfui-Chajim kommt.«
    Chajim hatte das Flüstern gehört. »Alle hier im Viertel haben Wiedergutmachung genommen!« schrie er beleidigt, deutete mit einer seiner Krücken in meine Richtung und fügte wütend hinzu: »Auch deine Mutter hat Wiedergutmachung genommen!«
    Seitdem hatte ich Chajim nicht mehr gesehen. Am nächsten Tag verließ die Familie Sinnreich das Viertel.

    Tova, Avram und Chajim Sinnreich wohnten im Erdgeschoß eines Hauses mit Garten.
    Tante Itta von Theresienstadt war es, die mir erzählte, daß Tova und Avram vor dem Krieg in Warschau gelebt hatten. Jahrelang war Avram in Tova verliebt gewesen, die Nachbarstochter mit den langen braunen Zöpfen und den großen schwarzen Augen. Aber Tova liebte Chajim, Avrams besten Freund, der bei

Weitere Kostenlose Bücher