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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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und meine Mutter verbot mir, wie die anderen Eltern auch, mit dem Sohn vom Pfui-Avram zu spielen.
    Man hat ihnen nie verziehen.
    In jenem Jahr, an Pessach, verschwanden die Sinnreichs aus dem Viertel.
    An dem Tag, an dem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatten und ihrer Wege gegangen waren, machte ein Gerücht die Runde, alle drei seien bei einem Unfall mit dem Auto umgekommen, das sie vom Geld der Deutschen gekauft hatten. Keiner vergoß eine Träne.
    »Mama, hast du auch Wiedergutmachung genommen?« fragte ich damals erschrocken. Voller Angst, daß auch sie und ich, wie Chajim und seine Familie, aus dem Viertel vertrieben werden könnten.
    »Tfu!« antwortete meine Mutter. »Für mich ist die Shoah nichts, womit man Geld verdient.«

    Sonia und Genia kamen herein.
    »Wer hat dir diese Unordnung gemacht?« fragte Genia und betrachtete die überall verstreuten Papiere, aber sie wartete nicht auf eine Antwort. »Wer war der feine Herr, der dich heute morgen besucht hat?«
    »Und wer war die Dame, die mit ihm gekommen ist?« erkundigte sich Sonia.
    »Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich.
    »Und wer ist das da auf den Fotos?« wollte Genia wissen. Sie deutete auf die Fotos auf dem Tisch.
    »Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte ich frustriert.
    »Man muß nicht alles wissen«, beruhigte mich Sonia.
    »Was man nicht weiß, tut einem nicht weh«, deklamierte Genia.
    Als sie sich setzten, fragte ich sie, ob sie sich an die Familie Sinnreich erinnerten.
    »Ja«, sagte Sonia.
    »Was ist mit ihnen?«
    »Sie sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen«, antworteten beide im Chor.
    »Woher wißt ihr das?«
    »Jeder, der Wiedergutmachung genommen hat, ist tot«, erklärte mir Sonia. »Frau Minka Marcus ist an dem Tag gestorben, als sie das Geld von den Deutschen bekommen hat. Sie kaufte eine neue Küche und starb. Herr Schleifer hat Wiedergutmachung genommen und aufgehört zu arbeiten und ist gestorben, und auch Itta, die Freundin deiner Mutter, ist tot. Wegen der Wiedergutmachung ist sie in einem Altersheim für reiche Leute verfault.«
    »Aber Itta lebt!« unterbrach ich sie.
    »Für mich ist sie tot«, antwortete Sonia gelassen.
    »Unsere Itta ist eine arme Frau«, flüsterte Genia mitleidig. »Sie lebt, nebbich, schon lange ganz allein in irgendeinem kleinen Zimmer.«
    »Nicht nebbich«, schimpfte Sonia. »Sie stirbt hier in der Nähe, in einem guten Altersheim, einem Altersheim für reiche Leute, und sie hat ein riesiges Zimmer.«
    »Sie hat keine Wiedergutmachung genommen«, korrigiertesie Genia. »Es ist ihr Sohn, der es sich im Leben gut eingerichtet hat.«
    Sonia wischte mit einer Handbewegung die Worte ihrer Freundin weg, und Genia wandte sich verlegen an mich und erklärte: »Ittas Gideon wohnt in Amerika, dort hat er eine reiche Frau gefunden, und statt herzukommen und seine Mutter zu besuchen, schickt er viele Dollars, damit er kein schlechtes Gewissen haben muß.«
    »Du redest zuviel«, schrie Sonia sie an. »Kaum sagt man Wiedergutmachung, da fängst du gleich mit einer Verteidigung an.« Sie trat näher zu Genia, stellte sich vor sie hin und brüllte: »Itta hat Wiedergutmachung genommen!«
    Genia wischte sich, ohne zu klagen, Sonias Spucke aus den Augen.
    Ich nutzte die Gelegenheit und fragte: »Und meine Mutter? Hat sie auch Wiedergutmachung genommen?«
    »Tfu!« rief Sonia böse. »Wie sprichst du über deine Mutter! Und dabei ist die Schiwa noch nicht zu Ende.«
    »Nebbich, Itta, sie hat deine Mutter so geliebt.« Genia kam auf Itta zurück. »Schon seit Jahren hat keiner sie besucht. Wenn du schon hier bist, tu ein gutes Werk und besuche sie.«

    Am Abend ging ich zur besten Freundin meiner Mutter, zu Tante Itta von Theresienstadt.
    Viele Jahre lang hatte ich geglaubt, »von Theresienstadt« sei ihr Nachname. Sie war die einzige, die mir die Wahrheit über die anderen Leute des Viertels erzählt hatte.
    Diesmal, so hoffte ich, würde mir Tante Itta von Theresienstadt etwas über meine Mutter erzählen.
    Entschlossen, alles zu fragen und nicht lockerzulassen, um soviel wie möglich zu erfahren, kam ich im Altersheim an.
    Im Speisesaal des Altersheims erkannte ich sie sofort, obwohl sie eine Gehhilfe benötigte und obwohl ihre schönen braunenAugen matt geworden waren, ihre Haare weiß und schütter und die Haut ihres Kinns faltig herunterhing.
    Als sie mich sah, brach sie in Tränen aus.
    »Wir sind fertig«, sagte sie mit dem vertrauten tschechischen Akzent zu mir, schloß die Augen und

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