Es war einmal eine Familie
schwieg. Nach ein paar Minuten schlug sie vor: »Komm mit in mein Zimmer.«
Das Zimmer war klein, die Möbel waren alt und vertraut. Itta goß Wasser aus einem Elektrokocher in zwei Porzellantassen, füllte Milch in ein hübsches Kännchen, und in eine dazu passende Schale legte sie einen Silberlöffel und ein paar Stücke Würfelzucker und gab Nescafé in die Tassen.
Bedrückende Stille breitete sich im Zimmer aus.
Ich suchte Trost und ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen, bis er an einem Foto von Gideon, Ittas Sohn, und seiner Familie hängenblieb.
»Er ist ein wunderbarer Junge«, sagte Itta, als sie bemerkte, daß ich das Foto auf der Kommode betrachtete. Dann fügte sie stolz hinzu: »Und seine Kinder sind so wohlgeraten.«
»Und die Frau?« fragte ich.
»Sie ist schön, sie ist sehr, sehr böse und schön«, antwortete Itta und wechselte schnell das Thema. »Und wie geht es dir? Wie sind dein Mann und deine Kinder?«
Während ich von meinen Kindern erzählte, kämpfte Itta immer noch mit den Tränen. »Schade«, sagte sie, »daß sie deine Mutter nicht mehr kennenlernen.«
Und habe ich sie gekannt? fragte ich mich, und der Schmerz fuhr mir durch den Körper.
Itta wird mir alles erzählen, tröstete ich mich.
Inzwischen hatte Itta es sich im Sessel bequem gemacht, sie schloß die Augen. »Also, was willst du hören, majn kind ?« fragte sie und unterbrach meine Gedanken.
»Alles, was du über sie weißt«, antwortete ich.
Itta warf mir einen Blick zu. Sie deutete auf das Porzellan,das sie vorhin auf den kleinen Tisch gestellt hatte, und sagte: »Das ist alles, was mir vom prachtvollen Haus meiner Eltern geblieben ist. Wenn ich Sehnsucht habe, nehme ich das Porzellan aus dem Schrank und trinke Kaffee wie früher, so wie ich es gern habe. Dann trinke ich und weine.« Doch sofort wies sie sich selbst zurecht: »Was erzähle ich dir für einen Unsinn.« Sie sprach weiter: »Deine Mutter war eine sehr intelligente Frau. Gebildet. Sie sprach mehrere Sprachen, sie hat gern gelesen, sie hat viele Dinge geliebt, aber dich«, sagte sie aufgewühlt, »dich hat sie über alles geliebt, sie hat nur für dich gelebt, du warst alles für sie. So ist es bei einer Mutter von dort, was hatte sie schon in ihrem Leben? Dich und all ihre schlimmen Erinnerungen.«
Dann entschuldigte sie sich: »Mach dir keine Sorgen, ich werde dir noch alles erzählen, was du willst, ich werde dir sogar erzählen, was deine Mutter gern gegessen hat.« Überraschend flink erhob sie sich, und mit Hilfe eines Gehstocks, der in der Zimmerecke stand, zog sie einen alten Schuhkarton unter ihrem Bett hervor. Aus dem Karton nahm sie ein Heft mit alten Flecken von Öl, Schokolade und allen möglichen Gewürzen. Auf den dünnen, zerknitterten Umschlag hatte Itta irgendwann mit Bleistift geschrieben: »Rezepte«. Während sie darin blätterte, erhaschte ich bekannte Rezepte, von denen jedes einen Namen trug: Kuchen von Frau Tuchmayer – Tscholent von Ida Zitrin – Gehackte Leber von Dorka.
»Deine Mutter«, sagte sie sehnsüchtig, »war eine Spezialistin für Griebenschmalz, sie hat mir zu Neujahr immer Schmalz in einem Joghurtbecher gebracht, an Chanukka hat sie für mich Krapfen gebacken, ihre pontschkes mit Konfitüre, und an Pessach brachte sie für die ganze Familie Gefilte Fisch und lokschn aus Mazzemehl.« Itta seufzte. »Wie die Zeit vergeht, es war doch erst gestern.« Plötzlich lächelte sie. »Im Viertel sagte man immer, deine Mutter habe gute Rezepte undverbrannte Kuchen. Na ja, wer Kuchen liebte, mußte bei Frau Tuchmayer Kaffee trinken. Bis heute habe ich den Geruch von ihren rogelach in der Nase und im Mund den Geschmack von Kakao. Ich selbst habe am liebsten Gulasch gekocht. Ich habe keinem das Rezept verraten. Jedem, der es haben wollte, gab ich Gulasch. Warum sollten sie sich abrackern und es doch nicht hinbekommen?«
Ich versuchte, sie wieder zum Thema zurückzuführen. »Aber was weißt du über meine Mutter?«
Sie nahm einen Schluck Kaffee und lächelte wieder. »Dreimal am Tag ist sie zu Efraims Laden gegangen. Morgens ging sie hin, um den Duft von frischem Brot zu riechen, mittags, um einzukaufen, was sie brauchte, und abends, um das zu holen, was ausgegangen war, damit sie für den nächsten Tag etwas zu essen hatte.«
Plötzlich war das Lächeln von ihren Lippen wie weggewischt, sie wurde ernst. »Sie hatte es schwer – eine Witwe, allein in der Welt, ohne irgend jemanden, nur mit einer kleinen Tochter und
Weitere Kostenlose Bücher