Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
Vom Netzwerk:
Erscheinung noch zu seinem Alter paßten.
    Neben ihm stand eine etwas jüngere Frau, mit rundem Körper und rundem Gesicht, mit gütigen Augen und Goldzähnen.
    »Guten Tag, wir Helena gekommen«, sagte sie mit einem schweren fremden Akzent.
    So begann ein Treffen, das über zwei Stunden dauerte.
    »Herr«, sagte der Mann und fügte hinzu: »Gottesmann-Gottesmann-Gottesmann.«
    Dann schwieg er und schaute mich an. »Helena«, sagte er, und dann folgte ein stotternder Satz auf polnisch.
    Ich bat das Paar, einzutreten, sie verbeugten sich und kamen herein. Die Frau stützte den humpelnden Herrn und führte ihn behutsam ins Zimmer. »Ich seine Pflegerin, ich bißchen Hebräisch, er Polnisch«, sagte sie verlegen.
    Ich bot den beiden Tee an, Kaffee und Kuchen, aber der Mann weinte nur.
    Die Frau zog aus einer großen Tasche ein zerknittertes Stofftaschentuch und wischte ihm die Tränen ab.
    »Helena«, sagte er wieder und deutete auf den Stuhl, den Helena am liebsten gehabt hatte, »Helena.«
    Ich ging in die Küche, um Kaffee zu kochen, Kuchen zu schneiden und Luft zu holen.
    Als ich mit dem Tablett zurückkam, sagte der Mann mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht: »Nicht, nicht«, und dann rief er wieder: »He-le-na!«
    Ich setzte mich verlegen ihnen gegenüber an den Tisch. Vergeblich suchte ich in meinem Gedächtnis nach irgend etwas, was mit diesem Mann und dieser Frau zu tun hatte.
    »Sind Sie ein Nachbar?« fragte ich ihn. Ich bemühte mich, besonders deutlich zu sprechen.
    Und er antwortete: »Ja.«
    »Sind Sie ein Freund?«
    Auch diesmal bejahte er.
    »Sind Sie ein Onkel?«
    »Kennen«, stammelte er, »Mutter.«
    Nach einigen Minuten sagte er plötzlich, ohne daß ich etwas gefragt hatte: »Kraków, Przedbórz, Płaszów, Kalwaryjska, Podgórze, Krakusa.«
    So reihte Herr Gottesmann Orts- und Straßennamen zu einer Kette, die ich mein Leben lang von meiner Mutter nur einzeln gehört hatte.
    Ich schaute ihn aufgeregt an, aber er schwieg wieder.
    Um die Situation zu retten, deutete ich auf die Plastiktüte in seiner Hand und fragte: »Was ist das?«
    Herrn Gottesmanns Augen leuchteten plötzlich auf. Seine Hände fingen an zu zittern, als hätte die Frage bei ihm einen heftigen Anfall von Parkinson ausgelöst.
    »Familie«, antwortete er. »Familie.«
    Die Pflegerin lächelte. »Er bringt das Ihnen, er bringt alles Ihnen«, sagte sie.
    Zitternd kippte Herr Gottesmann die Tüte aus. Alte Fotos fielen auf den Tisch und verteilten sich wie Spielkarten.
    »Bridge«, sagte Herr Gottesmann und lächelte. Aber dann ließen ihn seine falschen Zähne im Stich, sein Gebiß lockerte sich. Er preßte die Lippen zusammen, um die widerspenstigen Zähne im Mund zu behalten. Noch immer verlegen, betrachtete er die vergilbten Fotos, die den Tisch mit Gesichtern, Blicken, Landschaften und Ereignissen bedeckten. Es waren Schwarzweißfotos, und sie rochen alt und modrig. Herr Gottesmann hob ab und zu eines der Bilder hoch, manchmal weinte er, manchmal sagte er ein Wort oder zwei.
    » Tate « * , sagte er plötzlich und deutete auf ein kleines Foto.
    Darauf war ein magerer Mann mit schwarzen Haaren und hellen Augen zu sehen, neben ihm stand eine Frau mit kurzen, hellen Haaren, großen schwarzen Augen, hervorstehenden Zähnen, in einem karierten Kleid. Zwischen dem Mann und der Frau, mitten im Bild, ein weinendes Mädchen von vielleicht drei Jahren, in einer weißen Damenbluse, mit einer riesigen weißen Schleife auf dem Kopf. Dann deutete Herr Gottesmann auf ein anderes Foto. Er preßte die Lippen zusammen und versuchte mit Händen und Augen etwas zu erklären, aber ich verstand nicht, was er meinte.
    Auf diesem Bild standen drei Männer beisammen, die einander ähnlich sahen wie Brüder, alle in schweren schwarzen Wollmänteln. Zwei von ihnen trugen Baskenmützen, einer eine Schirmmütze und einen dicken Wollschal. Sie lächelten nicht, weder in die Kamera noch einander an.
    »Marek, Mischa, Marek«, sagte Herr Gottesmann und hielt mir das brüchige Foto hin. Auf einem anderen, das er mir ebenfalls mit zitternder Hand reichte, stand eine Braut unter einem Hochzeitsbaldachin, das Gesicht hinter dem Schleier verborgen. Ihr frischangetrauter Ehemann, mager und knochig, lauschte dem Rabbiner. Im Hintergrund war ein kleines Haus zu sehen und zehn dürre und traurige Menschen, die der Zeremonie zuschauten.
    »Marek, Mischa, Marek«, wiederholte Herr Gottesmann murmelnd.
    »Er Schlaganfall, nachdem Mischa tot«, sagte die Frau und fügte

Weitere Kostenlose Bücher