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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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verständnisvoll und begann sofort mit ihrer Arbeit.
    Während die Friseurin die Haare mit Wasserstoffperoxyd behandelte, saß meine Mutter ganz ruhig da. Und als sie im Spiegel sah, daß ihre Haare wieder blond waren, lächelte sie. »Danke«, flüsterte sie, und um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, erklärte sie mir mit letzter Kraft: »Ich möchte sterben, ich will nur nicht, daß die Nazis mich umbringen.«
    Bei dieser Gelegenheit bat sie auch um eine Sonnenbrille.
    Am nächsten Abend kam ich wieder ins Krankenhaus und brachte ihr eine Sonnenbrille. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, setzte sie die Brille auf, und Ruhe senkte sich auf ihr Gesicht.
    Ich betrachtete sie und wußte, daß die Nazis, auch wenn sie,behüte, ins Krankenhaus kämen, nicht entdecken würden, daß die blonde Helena dunkle Augen hatte.
    Auch dort, in jener Dämmerwelt, im Niemandsland zwischen hier und dort, fand meine Mutter keine Ruhe. Sie hatte es nicht gut in dieser
     Welt.

    An einem Herbstmorgen, der erste Regen fiel, betrat ich mit meiner Mutter die Bankfiliale in unserem Viertel.
    »Ich möchte für meine Tochter ein Sparkonto eröffnen«, sagte sie zu dem Bankangestellten und fügte stolz hinzu: »Für die Universität.«
    Der Angestellte, ein junger Mann, erkundigte sich höflich nach dem Namen meiner Mutter, und sie sagte: »Helena, schreiben Sie H-e-l-e-n-a«, und dann buchstabierte sie auch den Familiennamen.
    »Und die Adresse?« fragte der Angestellte und schaute sie über seine Brille hinweg an.
    »Auschwitz, Baracke 2, gegenüber vom Krematorium«, antwortete sie.
    Der Angestellte erstarrte. Ich stand neben meiner Mutter, erloschen.
    Vielleicht wollte sie ihre Worte abschwächen, denn sie fügte hinzu: »Manchmal bin ich in Krakau, manchmal in Płaszów, manchmal in Buchenwald, aber am Ende, Herr Bankangestellter, bin ich immer in Auschwitz.«

    Zusammen mit meiner Mutter ging ich zur Abschlußfeier des Gymnasiums. Siva, unsere Klassenlehrerin, hielt uns am Schultor zurück und überschüttete uns mit Komplimenten.
    »Sie sieht so schön aus in ihrer weißen Bluse und dem blauen Rock«, sagte Siva liebevoll. Helena lächelte erfreut.
    »Haben Sie in ihrem Alter auch so schön ausgesehen?« fragte Siva meine Mutter.
    »In ihrem Alter, Frau Lehrerin, hatte ich keinen Spiegel«, antwortete meine Mutter trocken.
    »Schon wieder Auschwitz«, zischte ich wütend.
    Die verlegene Lehrerin enteilte, ich lief schnell und mit großen Schritten zu meinen Klassenkameraden, und Helena blieb allein am Tor zurück.
    Nach der Feier, auf dem Heimweg, liefen wir hintereinander, ohne ein Wort oder einen Blick zu wechseln. Plötzlich blieb Helena stehen und schaute hinauf zum Himmel.
    »Er hat mir nicht alles genommen«, sagte sie bitter. »Ausgerechnet die Erinnerungen hat er mir gelassen, alle Erinnerungen.« Dann warf sie mir einen gequälten Blick zu, seufzte und sagte: »So bin ich, mein Andenken sei gesegnet.«

    »Nun beginnt der Trauerzug für die verstorbene Helena, Tochter von Frieda-Rachel und David«, hallten in meinen Ohren die Worte des Ausrufers auf dem Friedhof.
    Ihm schlossen sich die fremde Stimme des Totengräbers und die vertraute Stimme von Emuna an, der Tochter des Rabbiners, die im Duett sagten: »Die Erde möge ihr leicht sein, sie ruhe in Frieden, und kein Leid möge ihr mehr zuteil werden.«

Der zweite Tag
    Schabbat
    Ich kehrte in die Wohnung meiner Mutter zurück.
    Die Zeit hatte ihre Spuren in den Räumen hinterlassen, in denen ich aufgewachsen war. Im Tageslicht sah alles so alt aus – sogar die Luft war voll Schmutz und Staub, abgestanden und säuerlich.
    Von weitem waren traurige Geigenklänge zu hören.
    Ich öffnete den Fensterladen in meinem Zimmer, und klares Morgenlicht fiel herein. Ich stützte mich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett und schaute hinaus.
    Hinter den Baumwipfeln im Nachbarhof konnte ich das Fenster von Doveles Zimmer sehen. Dovele, ich mußte lächeln – Geiger und Humanist. Obwohl der Fensterladen drüben geschlossen und Dovele nicht in seinem Zimmer war, wurde die Stille des Morgens von Geigenklängen durchdrungen.
    Wie damals trat auch heute ein magerer Junge von neun oder zehn Jahren aus dem Haus auf die Straße, ein Junge in kariertem Hemd und weiten kurzen Khakihosen, die um seine Beine schlackerten, Locken fielen ihm über die lachenden Augen.
    Damals blieb Dovele an der Straßenecke stehen, stellte seinen Geigenkasten vor sich auf den Boden und verteilte an

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