Es war einmal eine Familie
Appetit und wohl bekomm’s.
Auch am Schabbat und an Feiertagen öffnete Efraim seinen Laden.
Man sagte, nur dort, inmitten all seiner Lebensmittel, finde Efraim Schutz vor seinen Ängsten, Zuflucht vor seinen Erinnerungen und Ruhe vor Dorka, seiner mürrischen Frau.
Dorka war eine kleine, magere und zornige Frau. Sie stand jeden Tag in der Tür oder am Fenster, mit wirren Haaren, in einem fleckigen bunten Baumwollkittel und Hausschuhen – aber nie verzichtete sie auf Lippenstift und Rouge, auf Perlenkette, Armreifen und Ohrringe, wie es sich für eine Frau aus einem vornehmen Geschlecht geziemte.
Wieder und wieder verkündete sie von ihrem Fenster aus, sie, Dorka, geborene Musikant, stamme aus einer angesehenen Familie.
Und ich stellte mir immer vor, daß Dorka aus einer Familie von Verrückten stamme. Deshalb, so erklärte ich mir, stand sie am Fenster und zeterte, manchmal mit niemandem, manchmal mit den Nachbarn, und jeden Tag, auch am Schabbat und an Feiertagen, mit ihrem Dovele.
»Dovele, ist dir nicht kalt?« schrie sie vom Fenster aus an einem glühendheißen Tag.
»Dovele, geh nicht so weit weg!« schrie sie ihm hinterher, wenn er zur Schule ging.
»Dovele, bist du krank?« schrie sie, auch wenn er gesund war. »Dovele, komm nach Hause! Du mußt Geige üben!« schrie sie, wenn er unten im Hof mit seinen Freunden spielte.
»Dovele, paß auf!« schrie sie einfach so, ohne Grund.
»Mein Dovele«, verkündete sie bei jeder Gelegenheit vom Fenster aus, »wird, Gott behüte, kein tumber Lebensmittelhändler sein, mein Dovele wird ein berühmter Geiger.«
Zweimal in der Woche fuhr Dorka mit Dovele und dem Geigenkasten zum Tel Aviver Konservatorium. Und jeden Tag zwischen vier und sechs zwang sie ihn zum Üben.
»Es reicht, ich möchte mit meinen Freunden spielen«, hörte ich ihn protestieren, doch Dorka beharrte: »Noch einmal! Das war noch nicht gut genug! Noch einmal, habe ich dir gesagt, das war noch nicht gut genug!«
Dorka ist die verrückteste Mutter des Viertels, dachte ich.
Stundenlang stand ich am Fenster und lauschte Doveles Geigenspiel, und manchmal hörte ich, wie Dorka Dovele von damals erzählte, als sein Urgroßvater und ihr Vater bei Festen für die Familie aufgespielt hatten. Wäre nicht der Krieg gewesen, hörte ich sie sagen, hätte auch sie eine große Geigerin werden können.
In Momenten großer Sehnsucht griff Dorka selbst zur Geige und spielte. Die Nachbarn, die sie spielen hörten, klatschten ihr laut Beifall.
Dann ging sie zum Fenster, als wolle sie sich verbeugen – mit wirrem Haar, geschminkt und mit Schmuck behangen. »Pest und Cholera!« schrie sie. »Ihr stört Dovele beim Üben!«
So war es, bis wir in die zehnte Klasse kamen, bis Marian im Viertel auftauchte.
An einem Spätsommertag kam mir ein Mädchen entgegen, barfuß, in knallengen Jeans, die fast platzten, und einem winzigen Hemdchen. Ihre Haare waren gebleicht und wild, und in der Hand hielt sie eine Gitarre.
Eine Hippie, dachte ich überrascht, hier gibt es eine Hippie. »Ich bin Marian«, stellte sie sich vor und erzählte mir mit amerikanischem Akzent, daß sie, ihre Mutter, ihr Vater und ihre alte Tante Mela erst gestern aus Amerika gekommen seien und hier im Viertel wohnen würden. Sie erkundigte sich in ihrem stolpernden Hebräisch, wo es hier in der Gegend eine Diskothek gebe, nach Partys, wer was rauche und wer außer ihr irgendein Instrument spiele.
Ich war verblüfft, schlug ihr aber vor, Dovele zu treffen. »Er wird ein berühmter Geiger werden«, sagte ich stolz und deutete auf das Haus, aus dem düstere Geigenklänge drangen.
Dorka öffnete die Tür und stieß zum ersten Mal den Schrei aus, der später im ganzen Viertel berühmt wurde: »Dovele, ojwawoj, irgendeine kurve * sucht dich!«
Noch am selben Tag erfüllten Gitarrenklänge und Marians fröhliche Stimme die Straße. Die Geige verstummte.
Danach drangen von drüben Pop und Rock in mein Zimmer, fröhliche Lieder über Liebe und Partys.
Und von Zeit zu Zeit ertönte der Schrei: »Hier ist eine kurve ! Eine kurve fun amerike !«
»Ich sage dir«, erklärte meine Mutter, die ebenfalls hörte, was
sich im Nachbarhaus abspielte, »Dorka ist verrückt. Was tut sie ihrem Dovele an? Was tut sie dem armen Mädchen an? Sie ist wirklich verrückt.«
»Laß die Kinder doch«, bat auch Efraim und zog Dorka vom Fenster weg.
»Geh du in deinen Laden, und verkauf dein Fruchtgelee«, schimpfte Dorka und schrie: »Mein Dovele wird ein Geiger!«
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