Es war einmal in New York / Nie wieder sollst du lieben
seiner Linken entstand ein Neubau für die Tuberkuloseklinik, die Anfang des nächsten Jahres eröffnet werden sollte. Ein Kran hob gewaltige Granitblöcke an, Arbeiter in Flanellhemden riefen dem Kranführer Anweisungen zu, in welche Richtung er seine Last bewegen musste.
Bragg wusste, er war ein Feigling, aber er konnte es nicht ändern. Seit gut zwanzig oder dreißig Minuten saß er nun schon in seinem Automobil, um den unvermeidbaren Augenblick hinauszuzögern, endlich aus dem Gefährt auszusteigen, ins Gebäude zu gehen und durch den sterilen Flur zu gehen, bis er die Türschwelle zu dem Zimmer erreicht hatte, in dem seine Frau untergebracht war.
Es war nicht so, als hätte er sie nicht sehen wollen. Aber bei ihr zu sein, kostete ihn all seine Kraft.
Doch sie lebte. Und das allein zählte. Sie lebte, sie warbei Bewusstsein, und ihr Gehirn schien keinerlei Schaden genommen zu haben. Dass ihr linkes Bein steif bleiben, dass sie nie wieder würde gehen können, machte ihm nichts aus. Immerhin hatte es vor einigen Wochen noch so ausgesehen, als würde sie niemals wieder ihre Augen öffnen.
Die Schuldgefühle erdrückten ihn förmlich. Einen Moment lang kam es ihm so vor, als laste das Gewicht eines der Granitblöcke des Gebäudes auf ihm und nehme ihm die Luft zum Atmen.
Entschlossen stieg Bragg aus dem Daimler und legte Handschuhe und Schutzbrille auf den Sitz. Zwei Krankenpfleger gingen vorüber und nickten ihm zu, während er sich vergeblich bemühte, sich an ihre Namen zu erinnern.
Mit dem Mantel über dem Arm ging er den aus Beton gegossenen Weg zur Abteilung für Unfallopfer hinauf und drückte die Eingangstür auf. Schwester, Pfleger und Ärzte standen am Empfang. Jemand sah ihn hereinkommen und winkte ihn prompt sofort durch.
Die Tür zu Leigh Annes Zimmer stand offen. Bragg hielt inne, sein Herz begann zu rasen. Dann endlich warf er einen Blick in den in sterilem Weiß gestrichenen Raum, in dem mehrere Betten standen, von denen nur eines belegt war. Leigh Anne saß da gegen mehrere Kissen gelehnt und blätterte in einer Ausgabe des Harper’s Weekly. Auch wenn es kaum möglich schien, schlug sein Herz noch schneller. Sie trug einen ihrer eigenen Morgenmäntel aus lavendelfarbener Seide und cremefarbener Spitze. Für ihn war sie auch jetzt noch die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
Ihr wurde bewusst, dass er in der Tür stand und sie ansah, ohne etwas sagen zu können. Sie blickte auf und legte beiläufig das Magazin zur Seite.
Irgendwie gelang ihm ein Lächeln. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Die Gefühle überschlugen sich in ihmso heftig, dass er kaum durchatmen und erst recht nicht klar denken konnte. Immense Erleichterung und zentnerschwere Schuld waren die beiden Empfindungen, die alles andere in den Hintergrund treten ließen.
„Guten Morgen“, hörte er sich sagen.
Sie erwiderte sein Lächeln. „Guten Morgen“, sagte sie leise. Leigh Anne war eine zierliche Frau, kaum mehr als eins sechzig groß, ihr Gesicht glich dem einer Porzellanpuppe. Ihre vollkommenen Gesichtszüge – große grüne Augen, eine zart geschnittene Nase und ein Mund wie eine Rosenknospe – wurden durch die elfenbeinfarbene Haut unterstrichen. Das volle schwarze Haar hatte einen seidigen Glanz, und sie trug es glatt nach unten gekämmt. Ein Mann, der das Zimmer betrat, in dem sie sich aufhielt, konnte nicht anders, als ein zweites Mal hinzusehen, den Mund zu öffnen und sie anzustarren.
Bragg fielen einige frische Blumensträuße auf, die auf der Fensterbank standen.
„Rourke war gestern Abend hier“, erklärte sie, nachdem sie seinem Blick gefolgt war.
„Mitten in der Woche?“ Sein zweiter Halbbruder machte in Philadelphia eine Ausbildung zum Mediziner.
„Er hat sich am Bellevue Medical College beworben. Heute Nachmittag hat er ein Vorstellungsgespräch.“
Rick nickte, konnte sich aber nicht auf die Pläne seines Halbbruders konzentrieren. „Wie geht es dir heute?“, fragte er stattdessen und zog einen Stuhl heran, damit er sich zu ihr ans Bett setzen konnte.
Es schien, als wolle sie ihm nicht mehr in die Augen schauen. Den Blick auf Rourkes gelbe Rosen aus dem Gewächshaus gerichtet, antwortete sie nur: „Gut.“
Zu gern hätte er seinen Arm ausgestreckt, um nach ihren zierlichen Händen zu greifen, doch aller Leidenschaft zum Trotz, die sie früher einmal miteinander verbunden hatte,wagte er es nicht, sie auch nur zu berühren. Er fürchtete, sie könne ihn zurückweisen. „Freust
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