Es war einmal in New York / Nie wieder sollst du lieben
gregorianisches Backsteinhaus in Sicht. Sie vergaß ihren Bruder, weil das Bild von der verzweifelten Rose, die Daisys übel zugerichteten Körper in den Armen hielt, vor ihrem geistigen Auge aufstieg. Eine Erinnerung, die sie schlagartig ernüchterte.
Da Joel inzwischen gelernt hatte, erst Francesca aus der Kutsche aussteigen zu lassen, sprang er nach ihr auf die Straße. „Ich fange schon mal an, mich umzuhören“, verkündete er.
„Vergiss Daisys Dienerschaft nicht“, erinnerte Francesca ihn. Schon vor langer Zeit hatte sie festgestellt, dass Zeugen unterschiedlich viel erzählten, je nachdem, von wem sie befragt wurden. Oft erhielt sie mehr Informationen als die Polizei,und mit dem Personal war Joel garantiert geschickter als die Beamten.
Heute war die Eingangstür geschlossen. Auf ihr Klopfen öffnete Daisys Butler Homer, ein weißhaariger Mann mittleren Alters. Überrascht bat er sie herein. Francesca dankte und überreichte ihm ihre Karte. „Guten Morgen. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich war eine Freundin von Miss Jones. Ich bin Kriminalistin.“
Homer las ihre Karte. Darauf stand:
Francesca Cahill
Aufklärung mysteriöser Verbrechen
No. 810 Fifth Avenue, New York City
Kein Fall ist zu unwichtig
„Ich erinnere mich, Miss Cahill. Ich fürchte, dass …“ Er stockte, offenbar zu bekümmert, um weiterzusprechen.
„Ich war gestern Nacht hier“, sagte sie sanft und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es tut mir so leid um Miss Jones.“ Am besten begann sie mit ihren Ermittlungen bei Homer, entschied sie.
„Danke“, flüsterte er aschfahl. „Sie war eine gute Herrin, Ma’am. Sie war sehr freundlich zu mir und dem Personal.“
„Ich weiß“, erwiderte Francesca weich, obwohl sie das natürlich nicht gewusst hatte. „Ich wollte zu Miss Cooper, würde zuerst aber gern mit Ihnen sprechen.“
Ein wenig überrascht nickte er. „Werden Sie Ihren Mörder fin den?“
„Das hoffe ich, ja.“
„Gut! Sie hat diesen Tod nicht verdient“, rief er. „Ich weiß, dass sie sündigte, doch sie war kein böser Mensch.“
Beruhigend tätschelte Francesca seine Schulter. „Vielleicht sollten Sie sich setzen, Homer. Darf ich Sie Homer nennen?“
Er nickte. „Es geht mir gut. Es ist nur der Schock …“
„Ich weiß. Wann waren Sie gestern mit Ihrer Arbeit fertig?“
„Um halb sechs.“
Das war sehr früh und überraschte Francesca. „Was war mit dem Abendessen? Oder ist Miss Jones ausgegangen?“
Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Sie blieb mit einem Gast zu Hause. Mir, Annie und Mrs Greene gab sie frei“, antwortete er.
Auch das erstaunte Francesca. Offenbar hatte Daisy einen intimen Abend mit jemandem geplant. Doch sie musste sich vergewissern, dass sie nichts missverstanden hatte. „Wenn Daisy Gäste empfing, gab sie dem Personal frei?“
Nun errötete er. „Gestern Abend wünschte sie ihre Privatsphäre, Miss Cahill.“
Was verschwieg er ihr? „Und das war etwas ganz Normales?“, hakte sie nach.
Seine Röte verstärkte sich. „Als ich hier anfing, gab sie uns immer frei, wenn Mr Hart vorbeikam.“
Alles in Francesca zog sich schmerzhaft zusammen. Darauf hätte sie vorbereitet sein müssen, dachte sie grimmig. „Und nachdem Mr Hart und ich uns verlobten?“
„Sie hatte einige Male Miss Cooper zu Gast, ansonsten ging sie normalerweise aus oder blieb allein zu Haus.“
Francesca runzelte die Stirn. „Miss Cooper wohnt nicht hier?“
Nun war es Homer, der überrascht aussah. „Nein, das tut sie nicht. Doch sie kommt etwa ein- oder zweimal die Woche vorbei.“
Das klang nicht so, als ob Daisy und Rose ihre frühere Beziehung fortgesetzt hätten. Oder zumindest nicht nach sehr viel Leidenschaft. „Und wer kam gestern Abend zu Miss Jones?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte er betrübt.
Francesca dachte fieberhaft nach. Vor ihrer Verlobunghatte Calder Daisy regelmäßig gesehen, und sie hatte dem Personal an diesen Abenden freigegeben. Einige Male verzichtete sie auch auf die Anwesenheit von Personal, wenn Rose sie besuchte. Gestern war Calder um sieben Uhr an der Grand Central Station angekommen – sie hatte den Fahrscheinabschnitt, um das zu beweisen –, also konnte er nicht Daisys Besucher gewesen sein, da sie dem Personal schon um halb sechs freigegeben hatte. Offensichtlich hatte sie ihren Gast gegen sechs oder sieben Uhr erwartet. Ob sie auf Rose gewartet hatte? „Vielleicht wollte sie ausgehen?“ Francesca musste diese Möglichkeit
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