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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Mädchen.
    »Ja, einen Jungen«, sagt sie, und die Klasse lacht minutenlang.
    »Und wann haben die Mäuse deine Zähne gefressen?«, will Nadia von der mit den Milchzahnlücken wissen: Sie schlägt die Hand vor das Gesicht. Gerade war Eid, das Fest des Fastenbrechens, die Handteller sind mit Henna gefärbt, die Nägel lackiert. Andere Mädchen mögen vor allem ihre Tauben und Brieftauben, und wenn sie je freihaben, liegen sie am liebsten in der Katzenschaukel. So wenig geläufig auch hier das Wort »spielen« ist, sie haben doch davon reden hören. Die kleine Rubina kennt zwei solcher Spiele: »Verstecken« und »Fangen«.
    In der nächsten Klasse wird gerade Mathematik unterrichtet. Die Lehrerin behauptet, die Kinder liebten den Unterricht. Und wirklich, alle kommen gerne an die Tafel und lesen vor, Silbe für Silbe, manche kaum hörbar.

    »Sag es mit fester Stimme«, ermuntert die Lehrerin, und es ist, als meinte sie damit die Rolle des Mädchens im Leben. Ihre eigene Rolle ist ja nicht anders. Es ist schwer, auf dem Land Lehrer zu finden. Die Bezahlung ist dürftig, und welche Frau in diesen Dörfern könnte schon Mathematik unterrichten? Die Unterstützung der Eltern bei den Hausaufgaben fehlt, die meisten sind Analphabeten. Umgekehrt gehen die Kinder nicht selten heim und geben ihr Wissen an die Eltern weiter, bringen ihnen das Schreiben bei, lesen ihnen aus der Zeitung vor oder erklären ihnen sogar, was diese oder jene Nachricht für sie persönlich bedeuten könnte. Ja, es ist sichtbar, die Kinder lieben den Unterricht und dabei auch den Wettbewerb.
    Ihr eigener Vater hat die Ausbildung der Lehrerin immer unterstützt. Er hat ihr gesagt: »Du musst das Niveau der Schule hochhalten. Das ist deine Aufgabe im Leben.« Diesem Satz fühlt sie sich ehern verpflichtet, vertritt ihn mit Strenge. Probleme gab es nur, sagt sie, als man die Mädchen gemeinsam mit den Jungen unterrichten wollte. Aber als man sie trennte, schickten die Eltern die Kinder gern. Doch immer noch ist leider der Bedarf an Schulen weit höher als die Kapazitäten.
    »Eine Mutter«, so erzählt eine Schulleiterin, »hat sogar vorgeschlagen, eigenhändig einen Stuhl für ihre Tochter mitzubringen. Doch leider: Tische und Stühle haben wir durchaus, was fehlt, ist der Platz.« Dann erzählt sie, wie eine Großmutter zur Schule kam, um den Wunsch des Sohnes zur Sprache zu bringen: Er wolle seiner jungen Frau den Schulbesuch ermöglichen.

    Im Rechenunterricht der ersten Klasse beweisen die Schüler, dass sie bis 78 zählen können. Bei 78 ist erst mal Schluss, aber sie strahlen, als ahnten sie schon die Freuden der Zahlenwelt jenseits der 78. Jetzt fährt die Lehrerin mit dem Lineal Ziffer für Ziffer ab. Die Klasse psalmodiert mit. Ein Mädchen schielt, eines ist ein Nomaden- kind und wird am Abend in einem Zelt verschwinden, eines sitzt ganz windschief. Erst als es an die Tafel geht, erkennt man, dass es nur einen Arm unter dem Umhang hat. Sieben Jahre war Massouda alt, als sie den linken Arm bei einer Bombardierung verlor. Dass sie keinen Vater hat, sagt sie lächelnd, damit man ihrem Gesicht dabei nicht auf den Grund sehen kann. An ihr ist nun alles schief. Sie geht nicht nur schief, selbst ihr Lächeln ist schief.
    Langsam, langsam entsteht unter den zögernden Fingern der Kleinen an der Tafel die Zahl 75. Es sieht aus, als wage sich die Schülerin ins tiefe Wasser. Erst ein Haken, dann ein Kreis, ein Kästchen, mit dem Finger zählt sie die Sieben nach.
    »Größer, damit alle es sehen können!«, ermuntert die Lehrerin. »Lauter, damit alle es hören können!« Sie spricht in Anweisungen, ohne didaktischen Aufwand, mit eingestreutem Lob und mit Ermahnungen:
    »Fatima, nicht einschlafen! Man muss aufpassen im Unterricht. Sehr gut! – Erkläre es mal für deine Klassenkameradinnen! Gut.«

    Die Lehrerin ist nebenher nicht weniger als Seelsorgerin, und oft kommen die Kinder mit persönlichen Fragen. Sie sind besetzt mit Schrecken und Zwangsvorstellungen. Ihre Trauer und Verstörung zeigt sich bei den Mädchen in Unkonzentriertheit, bei den Jungen in Aggression. Immer fehlt etwas, der Vater fehlt, der Onkel, der Bruder, die Familie ist beschädigt.

    Im Unterricht wechselt die Lehrerin zwischen Dari und Paschtu. Sie denkt sich didaktische Kniffe aus, doch eigentlich fehlen ihr Lehrmittel, um den Frontalunterricht brechen zu können. Heute nimmt sie Geldscheine zu Hilfe.
    »Sie sehen«, erläutert sie mir, »die Kinder erkennen die Zahlen nicht

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