Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
haben ihn Dorfbewohner begraben, da wir kein Begräbnisgeld hatten. Wir blieben ganz ohne Beschützer. Meine zwei Brüder sammelten Holz, und meine Mutter hat in den Gärten anderer Menschen Pflaumen gepflückt. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich in die Schneiderei kam. Ich erzählte meinen Mitschülern und Lehrern meine Lebensgeschichte, und sie verhielten sich mir gegenüber sehr nett. In dieser Ausbildung konnte man nicht unbeschäftigt bleiben, es gab immer viel zu tun. Mit großer Mühe sorgten meine Ausbilder dafür, dass ich die Schneiderei richtig erlernte. Am Ende gaben sie mir eine Nähmaschine und eine Schere. Ich wäre sehr froh gewesen, hätten sie mir auch ein Bügeleisen gegeben.«
»Ich heiße Feruch Gulam Ali und bin Absolventin der Schneiderei. Ich habe fünf Söhne und neun Töchter. Mein Ehemann ist drogenabhängig. Er war drei Jahre im Iran und hat sich nicht um meine Kinder und mich gekümmert oder sich gemeldet. Seit fünf Jahren ist er wieder zu Hause. Ich arbeite als Schneiderin, meine Kinder gehen zur Schule, und mein Leben ist gut. Wenn ich meinen Mann sehe, werde ich traurig. Aber dennoch schaffe ich es aus meiner eigenen Kraft, dass ich von keinem anderen Hilfe angenommen habe und mit meinem ehrlich verdienten Geld, das ich als Schneiderin verdiene, die gesamten Ausgaben für meine Kinder und meinen drogenabhängigen Mann bestreite.«
Jamila Shah Mahmud schreibt: »Nach Abschluss meiner Ausbildung habe ich einen jungen Mann geheiratet, der dort auf der Straße auf einem Laster Obst verkauft hat. Er besaß kaum Geld, und da ich hier als Jamila, die Schneiderin, bekannt bin, habe ich dank meines Fleißes mit den Einnahmen als Schneiderin ein Salzgeschäft für meinen Mann gründen können. Wir führen ein friedliches Leben, haben ein Mietshaus, und unseren Kindern geht es gut.«
Im Jahr 2008 gab der UN-Generalsekretär bekannt, dass sechs Millionen Kinder in Afghanistan zur Schule gingen, 34 Prozent von ihnen waren Mädchen, vorwiegend in den Städten und meistens in die Grundschulklassen. Afghanistan besitzt zwar eine der höchsten Analphabetenraten weltweit, groß aber ist der Bildungshunger: der Ansturm an den Schulen und Universitäten sprengt vielfach alle Kapazitäten. Denn schätzungsweise 75 Prozent aller Schulen wurden zur Kriegszeit zerstört, Lehrmittel fehlen, die Gehälter für Lehrer sind lausig, und Weiterbildung ist vor allem für die Lehrerinnen nötig, denen das Unterrichten zur Talibanzeit verboten war.
Wenn die Beteiligung Deutschlands am Krieg in Afghanistan begründet wurde, von der Verteidigung »unserer Freiheit« und »Sicherheit« am Hindukusch die Rede war, wurde kompensatorisch immer auch davon gesprochen, man beteilige sich an der Erziehung der Jugend, dem Aufbau des Bildungssystems, man investiere in die Zukunft der afghanischen Jugend. Aber wo?
Die deutschsprachige Kultur nimmt im Germanistischen Institut der Universität Kabul einen weit dürftigeren Raum ein als die französische nebenan. An den Wänden hängen Plakate mit Bildern von Thomas Mann, Hannah Arendt, Gottfried Benn, Albert Einstein. In den spärlich bestückten Regalen aber fehlen die meisten ihrer Werke. Wenn hierhin die vielzitierte deutsche Hilfe für Bildung und Erziehung wandern soll, dann wandert sie vorbei.
Im Streitgespräch mit den Studenten des Instituts glaubt denn auch kaum jemand an die humanitären Absichten auf Seiten der ausländischen Truppen. Nicht an Bush haben sie geglaubt, nicht an Obama glauben sie. Vielmehr haben sie beobachtet, wie eine Nation nach der anderen, auch Deutschland, aus dem humanitären Bereich an die militärische Front gewechselt ist, und so hat auch ein deutscher Besucher hier, anders als noch vor Jahren, keine besondere Sympathie zu erwarten. Ein Student erhebt sich:
»Die Taliban bringen Zivilisten um. Ihr bringt Zivilisten um. Wo ist der Unterschied? Und sagen Sie mir: Warum habt ihr solche Angst vor uns?«
Ein Zweiter fällt ein: »Ich kann es nicht mehr hören. Zu viel wurde uns versprochen, zu wenig ist geschehen. Was habt ihr erreicht? Was haben Sie erreicht?«
Er zeigt mit dem Finger auf mich, eine Geste, die angesichts der Höflichkeit im Umgang mit allen Fremden noch drastischer wirkt. Der Dozent erklärt ihm, ich sei nicht von der Bundeswehr. Da entschuldigt sich der Student. Zu oft schon seien deutsche Militärs hier gewesen und hätten ihre Mission erklärt. Worte! Sie könnten sie alle nicht mehr hören.
Aber bleibt etwas? Er
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