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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Kälber.

    Die Kinder stehen händeringend vor ihrem Dorfeingang und schauen. Hält man ihren Blick fest, dann lachen sie über die eigene Neugier. In das Weichprofil ihrer Welt haben sich Bombenabwürfe und Raketenbeschuss, Vergewaltigungen, Folter und Morde eingedrückt. Heckenschützen haben gewartet, Späher haben Häuser auf der Suche nach Versteckten durchkämmt, Marodierende haben zerstört, Soldatentrupps Bauwerke gestürmt und verwüstet, Frauen haben geschrien, Kameraden das Weite gesucht, Bunker gegraben, Verstecke eingerichtet. Jede denkbare Konstellation kann wiederkommen. Es ist alles noch zu frisch. Die Gewalt ist nicht Vergangenheit, ist nicht archaisch, nicht Entertainment, nicht Kultus. Sie ist nur für ein paar Tage nicht hierhergekommen, und wir reden schon von Frieden.
    Im Norden überquerten wir einmal den »Drei-Wasser-Fluss«, passierten die Reisterrassen, die Okra-Felder, die Mulden, in denen am schmalen Wasserlauf Kamele und Schafe getränkt wurden. Wir bogen in Staubstraßen ein, auf denen kleine Mädchen zur Schule liefen, und auch wir waren auf dem Weg zu dieser Schule, die heute achthundert Kinder aus zwölf Dörfern aufnimmt. Alle diese Kinder müssen in der Landwirtschaft mithelfen, dem Vater sein Essen aufs Feld bringen, die Tiere versorgen. Manche gehen eine volle Stunde, bis sie das Schild erreicht haben, das am Schuleingang steht und die Inschrift trägt: »Wissen und Können bringen den Menschen weiter.«

    In Deutschland behauptet der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Verteidigungsminister, solche Projekte könnten nur existieren, weil sie unter dem Schutz der alliierten Truppen stünden. Doch dies Schulprojekt genießt, wie alle anderen, die ich besuchte, keinen Schutz, keine finanzielle Unterstützung von offiziellen Stellen, schon gar nicht aus Deutschland, und auch die Expertise derer, die hier seit Jahrzehnten humanitäre Arbeit leisten, wurde von der internationalen Gemeinschaft der Militärs noch nie gesucht. Nur einmal hat ein Querschläger der amerikanischen Truppen das Dach beschädigt, und den Eltern, die ihre Mädchen erst nicht in die Schule schicken wollten aus Angst vor den Taliban, musste nun erklärt werden, dass sie sie auch nicht aus Angst vor den Alliierten daheimlassen dürften.
    In den Klassen herrschte Disziplin, so altmodisch wie fremd. Alle erhoben sich, sobald jemand die Klasse betrat. Die Schüler antworteten chorisch auf einen Gruß, versagten sich jedes Flüstern, jedes Lachen. Ganz Auge, ganz gespannte Aufmerksamkeit waren sie, und die an der Tafel schwangen mit dem Zeigestock von Zeichen zu Zeichen und lasen die Verse laut und deutlich.
    Es hing ein Hygiene-Plakat an der Wand, auch eine Tafel mit den Abbildungen von Minen, der Stundenplan. Ein kleiner Junge in Blouson und mit Käppi trug ernst und selbstbewusst seine Hausaufgabe vor, der nächste stockte bei dem Satz »Wenn du den Menschen respektierst, wirst du vom Menschen respektiert« und musste, ganz bleich im kleinen Gesicht, an seinen Platz zurück.

    »Wer von euch kann lesen?«
    Alle Finger flogen hoch.
    »Und wie alt bist du?«, fragte ich die Schmächtigste der Klasse. Sie schaute, als habe sie gerade diese Lektion nicht vorbereitet, sie wusste es nicht. Aber der Lehrer näherte sich, fasste ihr in den Mund und betrachtete den Zahnstand:
    »Sie wird etwa acht Jahre alt sein.«
    Die Kinder sprechen von der Alphabetisierung, als sei sie ein Beruf. Ihr Wissenshunger ist brennend, ihre Vorstellung vom eigenen Leben ist voller Verantwortung für die Entwicklung Afghanistans. Sie sind stolz, auch weil sie auf Hilfe am liebsten verzichten möchten. Sie sind eigenverantwortlich, fühlt sich doch jede und jeder offenbar bereits im Kindesalter verpflichtet, das eigene Land zu unterstützen, und sie ehren den Zusammenhalt der Familie.
    Gewiss kann man in manchem Punkt die Rede der Eltern und Lehrer durchhören, und auch wo von der Entwaffnung, der Befreiung von den Besatzern, der Beilegung von Stammeskonflikten die Rede ist, klingen erwachsene Stimmen nach. Anderseits setzt in Afghanistan die Erziehung zur Mündigkeit mit der unmittelbaren persönlichen Erfahrung der Kinder ein, und so ist es vermutlich kein Zufall, dass ich in keinem Land eine so entwickelte politische Bildung bei jungen Menschen erlebte wie gerade hier.

    Warum? Ein alter Familienvater erklärte es aus dem Fundus des Leidens, das man doch irgendwie begründen, in einen Zusammenhang, mit Gesichtern und

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