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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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will wissen, was uns, was Deutschland dieser Krieg nütze. Ich erkläre, ich sähe nicht, wo jemand außerhalb der Rüstungsindustrie in Deutschland greifbare Profite mache mit diesem Krieg. Ich erwähne die Leichen von Soldaten und den Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, deren Särge auf deutschen Flughäfen eintreffen. Schrecken aber zeichnet sich in den Zügen der Studenten erst ab, als ich den Moment vorwegnehme, in dem sich die Weltöffentlichkeit von Afghanistan abgekehrt und anderen Brennpunkten zugewandt haben wird. Diesen Zustand des Landes will sich hier niemand vorstellen.

    Dann aber ist es plötzlich die Dozentin, die sich mit Vehemenz gegen das Plenum richtet und die Debatte wendet. Sie spricht nicht zu mir, sondern zu den ihrigen:

    »Wir klagen immer nur an, wir zeigen immer nur mit dem Finger auf die Ausländer, die Großmächte, das Militär, wir reden und reden, in Endlosschleifen. Doch lieber sollten wir uns selbst organisieren. Wir sehen pakistanische und indische Filme. Unseren Charakter bildet das nicht. Wir zeigen auf andere. Doch was tun wir? Wir trainieren unsere Körper, aber unseren Geist?«
    Der Junge mit dem »Army«-T-Shirt schweigt, der Junge mit dem »London«-T-Shirt schaut betroffen. Ihre Männerkörper verdanken sie den Bodybuilding-Studios mit den gelackten Körpern auf der Fassade. Und es ist wahr: »Könnt ihr weißes Pulver besorgen?«, haben sie uns gefragt. Gemeint waren Steroide.
    Die Dozentin redet sich in Rage: »Wir müssen das Land selbst aufbauen. Ich hatte einen Freund, der tagsüber als Student lebte, nachts als Talib. Jetzt ist er tot. Dieser Weg führt für uns alle nicht weiter.«
    Der Erste, der sich zu antworten traut, ist desillusioniert: »Wenn die Internationale Gemeinschaft es nicht schafft, wenn unser Parlament es nicht schafft, die Probleme Afghanistans zu lösen, wie sollen wir?« Er schaut verzweifelt in die Runde.
    »Ich habe einen Schriftsteller gewählt. Er zog ins Parlament ein. Gleich anschließend wurde er zusammengeschlagen. Er zog sich zurück. Nun habe ich keine Stimme mehr im Parlament. Wenn er es nicht schafft, wie soll ich es schaffen?«
    Die Frage klingt so rhetorisch, dass keiner sie aufgreift. Einer will stattdessen wissen, was Afghanistan durch den deutschen Mauerfall lernen könne. Ein anderer fragt, welche positiven Veränderungen ich auf den Straßen Kabuls beobachtet hätte.

    »Es gibt weniger Burkas«, sage ich, alle lächeln, »mehr Frauen am Steuer, die Rede ist freier, ihr habt Strom, der Warenfluss erreicht die Stadt. Doch wo geht er hin?«
    Sie zucken die Achseln.
    »Wenn der Regen schmutzig vom Himmel kommt, wird alles schmutzig«, antwortet einer der Studenten salomonisch, und da sind sich alle einig, dass die internationale Politik, die nationale Korruption, die Hinfälligkeit der Demokratie in diesem Parlament, dass sie alle zusammen Schuld haben am Desaster des Augenblicks. Aber ich werde erfahren, dass sich einige der Studenten in den folgenden Wochen organisiert haben und dass sie es mit einer eigenen Vertretung im Parlament versuchen wollen.
    Als wir uns zu einem Abschiedsfoto aufstellen, ergreifen die meisten der Mädchen, die hinten in einem Block gesessen haben, die Flucht. Die Dozentin schimpft unermüdlich hinter ihnen her:
    »Ihr seid die wenigen Frauen hier. Ihr habt es geschafft und habt nicht einmal den Mut, euch fotografieren zu lassen? Ihr wollt moderne Afghaninnen sein? Schande!«
    Und in der Tat ist diese Scheu erstaunlich, sahen wir doch auf dem Campus geschminkte Studentinnen, solche mit Pfennigabsätzen und in engen Jeans.

    Wo aber liegt die Welt, in der von diesem Campus geträumt wird? Wo haben die Lebensläufe dieser Akademikerinnen ihren Ursprung? Wir lassen die Stadt hinter uns, auf dem Weg zu einer Mädchenschule auf dem Lande. Auf den Bergrücken am Stadtrand von Kabul entstehen in Terrassen die neuen Stadtteile, Trabantenstädte, die sich die Namen von Kommandanten geben. Einige von ihnen möchten sich selbständig machen, nicht »Kabul« heißen. Sie erheben sich isoliert zwischen Feldern, bloße Weiler manchmal, Haufendörfer im Werden. Während die Schafe auf der abgehäuteten Fläche des Baulands weiden, durchwühlen die Hirten die Müllcontainer.
    Die Kriegsgeschichte dominiert immer noch jeden Blick. Die Folgen des Raketenbeschusses sind überall sichtbar. Ruinen ragen auf, ausgebrannte Panzer liegen gestrandet, schweres Gerät säumt die Fahrbahn. Selbst die Straßenarbeiter stehen im

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