Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
zwischen Nomadenzelten. Sie geben dem Schönen manchmal überdimensionale Proportionen, wenn Blütenkelche und Schmetterlinge im Firmament schaukeln, größer als alles auf Erden. Aber sie verraten auch das Monstrum der Katastrophe, als die das Unglück über das Kinderleben gekommen ist. Auf manchen Bildern ist die Wucht der Zerstörung durch Bomben und Attentate so roh, dass statt einer Zeichnung Runen zu sehen sind, Kürzel und Piktogramme. Mal ist das Blut ein verschmierter Fleck inmitten der Andeutung einer Siedlung in Graphit, mal haben Bomben alles – Mauern, Werkzeuge, Bäume und Zäune zerstückt. Man kann sehen, wie die Flugzeuge ihre Bombenfracht abwerfen und das Land mit Zerstörung überziehen. Man kann erkennen, wie bei Attentaten den Opfern die Gliedmaßen abgerissen werden. Man kann sogar Waffentechnologie und die Topographie von Schauplätzen und Tatorten identifizieren. Diese Kinder malen immer auch als Augenzeugen, unbeholfen vielleicht, aber zugleich schrecklich präzise in den Details.
Manche diese Bilder sind von einer schaurigen Genauigkeit, gemalt unter dem Diktat des Schreckens, der sie aus der Erinnerung abmalt. Es wäre einfach zu sagen, dass diese Zeichnungen traumatische Schocks bearbeiten. Es gibt in Afghanistan kaum irgendwo eine Diagnosestelle und fast keine therapeutischen Initiativen für vermeintliche Luxus-Erkrankungen wie die Belastung durch ein Trauma. Aber das ändert nichts daran, dass man Kindern mit tiefen Spuren der Verwirrung häufig begegnet und zusieht, wie sie allenfalls in die Obhut des Schamgefühls genommen werden.
Ich habe Kinder gesehen, die fast nackt durch die herbstliche Landschaft irrten, solche, die unverständlich oder stumpfsinnig geworden waren oder solche, die sich ein zweites Zuhause am Fluss geschaffen hatten, wo sie zu den Tieren der freien Natur ein zärtliches Verhältnis pflegten, wie sie es außerhalb dieses Rückzugsortes vielleicht nicht kannten. In die Gesichter dieser Kinder hatte sich manchmal die Erfahrung von Greisen eingegraben. Mit ihren igelartig hochstehenden Frisuren, ihrer vom Schlafen im Freien gegerbten Haut, mit ihrem staubgefirnissten Teint, den Tränensäcken, die hingen wie bei Alten, und diesem Lebenshunger, der ihren Gesichtern Vitalität und grenzenlose Neugier gab, waren sie schiefgewachsene Menschen, solche, die wenig Nutzloses getan hatten im Leben, aber viel von dem sehen und erleiden mussten, was in der westlichen Welt ganzen Generationen erspart geblieben ist.
Eng und fremd geworden sind vor allem die Lebensräume der Nomaden, denen die Politik, der Krieg, die Klimaveränderung, die Stammeskonflikte ihre Existenzgrundlagen nahmen. Aus dem nahen Zeltdorf tapst ein Kind heran. Mit einer Flickenpuppe im Arm, sieht es selbst aus wie eine Flickenpuppe. Doch nein, es liegt keine Puppe im Arm, es ist ein Baby mit Henna-Flaum und geschminkten Augen. Gerade hat das Schaf zu seinen Füßen zu niesen begonnen. Das Kind klopft ihm auf den staubigen Hintern, bis es still ist und muffig davontrabt. Da blickt das Kind mit seinem verrunzelten Gesicht triumphierend auf.
Wird es je einen Lehrer haben? Der müsste sich den Nomaden anschließen, ihr hartes Leben teilen. Oder die Nomaden müssten ihre Lebensform aufgeben, in diesen Zeltdörfern bleiben mit ihrem Elend, ihren Konflikten, ihrer Arbeitslosigkeit. Nein, nicht einmal die Hilfsorganisationen, sagt der Ortsvorsteher, helfen den Nomaden. Und dann treten ihre Kinder aus den Zeltsiedlungen, tragen einen Wollpullover mit der Aufschrift »Yes, Mum« oder »Bondi Beach« und darüber ihre traditionell goldbestickten Westen. Frierend drücken sie sich an das frierende Vieh, und wenn nach einigen kalten Nächten Gewitter heruntergehen, drängen sich alle noch enger zusammen, um eine Wärme, die sie sich nur wechselseitig geben können.
Morgens aber laufen einige Nomadenkinder für ein paar Stunden in die nächstgelegene Schule. Anschließend arbeiten manche von ihnen im Straßenbau, und selbst die ältesten Stammesangehörigen sammeln noch Früchte oder Walnüsse oder trockenen Dung zum Verfeuern. Die Gesichter dieser zahnlosen Alten sind reine Graphik, aus Strichen zusammengesetzt. Kaum sind sie in ihrem Zelt, verschwinden sie unter einer Decke. Säcke mit Getreide stehen da, mit Brennmaterial. Blechgeschirr baumelt vom First, jeder Gegenstand ist in einer langen Gebrauchsgeschichte stumpf geworden und erzählt. Schließlich nimmt der Alte eine Decke und breitet sie selbst über die
Weitere Kostenlose Bücher