Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Graben, die Schaufeln wie Waffen haltend. Und Kinder lehnen an der Hauswand, gespenstisch erwachsen, in Posen, die sie den Kriegern abschauten. Ihr Leben haben sie dem Tod abgetrotzt und es noch nicht restlos gewonnen.
Um die Läden und Märkte, die eigentlichen Verkehrskreuzungspunkte, organisiert sich der Alltag in einer Art Ordnung. Der Rest ist Improvisation, und improvisiert ist auch der Verkehr. Ist eine Straße vierspurig, wird sie achtspurig befahren, aber die Spuren alternieren. Von ihren Flanken und Rückseiten schicken die Fahrzeuge Botschaften in die Welt: Ein aufgemalter Tiger und ein Löwe, die sich zur Versöhnung die Pranken reichen, darunter in Worten: »We born to live. We live to love. We love to suffer. We suffer to die.«
Weiter draußen liegen die Nomadensiedlungen. Die Ziegeleien arbeiten, Baumaterial wird hergestellt und vertrieben. Nur das Holz muss noch aus Pakistan und Russland importiert werden, zu schwach und teuer ist die heimische Holzwirtschaft.
An den Fernstraßen zwischen den Dörfern: Kontrollposten überall. Ob man durch diese Sperren je Selbstmordattentäter gefasst habe, will ich von unserem Fahrer Nabil wissen.
»O ja, viele.«
»Sicher?«
»Das Fernsehen zeigt es doch dauernd. Gerade wurde Sprengstoff in einer Waschmittelverpackung gefunden. In Bagram hat man acht Selbstmordattentäter verhaftet. Man hat sie getötet. Einen anderen hat der Präsident in die Türkei geschickt zum Studieren. Er ist zurückgekommen und hat noch mehr Menschen umgebracht.«
Wir verlassen die asphaltierte Straße, schlängeln uns mit den Feldwegen zwischen den Dörfern durch, wo es wie in der Stadt die Kultur der Dächer gab, Dächer, auf denen auch hier Musik gespielt wurde und sich die Liebenden zum Essen versammelten. Auch Drachen zappeln im Spätsommerwind. Schon viele Kilometer vor der Schule sieht man die Kinder wieselflink daherkommen. Oft tragen die Mädchen Flipflops, Sandalen mit Riemchen, auch staubige Lackschuhe mit zerfetzten Absätzen. Denen, die barfuß kommen, zahlt die Schule im Winter Plastikschuhe. Die Mädchen spazieren nicht, nein, die Geschwister nehmen einander wechselseitig unter die Fittiche und stürmen mit raumgreifenden Schritten über das Land. Oft wissen sie viel über Heilpflanzen, fahren auch das Viehfutter ein, organisieren die Feldarbeit. Einige von ihnen haben einen täglichen Schulweg von zwei Stunden – kein Wunder in einer Gegend, in der es nur eine Schule für 22 Dörfer gibt.
Auch die Schülerinnen werden, bevor sie das Gebäude betreten dürfen, »durchgefilzt«, wie Nadia es nennt. Die Lehrerin für die Jüngsten ist neunzehn, studiert parallel in Kabul Islamisches Recht und will einmal Staatsanwältin werden, um sich für die Rechte der Frauen einzusetzen. Ihr Bruder, ein Jahr älter als sie, bewarb sich gleichzeitig mit ihr um einen Studienplatz. Genommen aber wurde nur sie, und stolz berichtet sie, wie ihr Bruder sagte: »Gut, dass du es bist, die es geschafft hat. Du hast es schwerer als Frau.«
Wenn die jüngsten Schülerinnen antworten sollen, führen sie die Hand an den Mund, winden sich, verbergen ihr Gesicht vor Scheu, sie selbst zu sein. Ich stelle die einfachen, anschaulichen Fragen aus der Mitte ihres täglichen Lebens. Ihren Tagesablauf skizziert Suleikha ernst:
»Um vier Uhr stehe ich auf, bete, mache einen Arbeitsplan, kümmere mich um die Weintrauben, dann um den Haushalt, räume mein Zimmer auf, bereite das Frühstück zu und gehe zur Schule. Wenn ich heimkehre, wartet viel Arbeit auf mich, auch im Garten, auf dem Feld, auch mit dem Vieh, meine Hausaufgaben kann ich erst abends machen vor dem Schlafengehen.«
»Und seht ihr die neue afghanische Castingshow?«
Die Schülerinnen sagen, ja, »Afghan Star« haben sie schon mal gesehen, aber sie mögen es nicht. Dann lachen sie, denn sie glauben sich selbst nicht.
Fatima ist sechs Jahre alt.
»Habt ihr Vieh?«
»Ja, ein Huhn.«
Die Älteste in dieser ersten Klasse ist elf Jahre alt und möchte Ärztin werden.
»Keine Sängerin? Keine Schauspielerin?«
»Nein, das sind unehrenhafte Berufe. Privat kann man das machen, aber ein Beruf ist das nicht.«
Einige wünschen sich eines Tages als Hebammen zu arbeiten. Eine findet, der beste Beruf sei Hirtin. Zehn der kleinen Mädchen wären gerne Zoodirektorin, aber als ich frage, wer schon einmal im Zoo war, hebt sich kein Finger, und das liebste Tier ist ihnen immer noch das Schaf.
»Habt ihr Tiere zu Hause?«, frage ich ein
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